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Oghtaqa - der blutrote Traum - Druckversion

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Oghtaqa - der blutrote Traum - Lelwani - 09.12.2006

I Der Pfad des Blutes


Die Sonne der wilden Steppe schien ihr ins Gesicht, als sie frohen Mutes und im Laufschritt von der erfolgreichen Jagd heimkehrte. Auf ihren Schultern trug sie einen jungen Kashabären, dessen sie vor ein paar Stunden habhaft werden konnte und der anscheinend von seiner Mutter verlassen worden war. Zartes Fleisch würde er geben und ihr außerdem die Anerkennung ihrer Familie einbringen. Und weil sie schon bald sechzehn Winter gesehen hatte und sich als fähig erwiesen hatte, alleine auf die Jagd zu gehen, würde ihre Initiation wohl schon bald stattfinden können.
Den weichen Savannenboden unter ihren Füßen hinter sich lassend, um in das bewaldete Tal nahe dem Fluss einzutreten, atmete sie tief die warme Luft des herannahenden Sommers und ihr Auge suchte die Zelte und Hütten der Familie, die nicht weit entfernt in der Nähe des großen Stromes lagen, der von den Orks in dieser Gegend Lashzar, der große Reißende, genannt wird. Doch alles, was sie sah, war eine weißlichgraue Rauchfahne, die sich über den Wipfeln der hohen Bäume erhob und der ihre Instinkte weckte. Um schneller an den Ursprungsort dieses Rauches zu gelangen, ließ sie den jungen Bären von den Schultern gleiten und lief zum Fluss, in den sie hineinsprang, um zügig auf die andere Seite zu schwimmen. Und was sie auf der anderen Seite des Lashzar erblickte, ließ sie den Frohsinn der letzten Stunden vergessen: Dort fand sie die Hütten und die Zelte ihrer Familie zerstört und immer noch rauchend von einem Brand, der wohl gelegt worden war. Der Geruch verwesenden und verbrannten Fleisches lag in der Luft, die noch immer heiß vom schwelenden Feuer zu sein schien, das an diesem Ort gewütet hatte. Und dort, hinter den Resten der verbrannten Heimstätte, an Pfählen aufgespießt und von zahlreichen Kampfwunden entstellt, fand sie ihre Eltern. Verzweifelt und von dem Wunsch getrieben, in diesen Trümmern noch Leben zu finden, irrte sie durch die verkohlten Überreste des Ortes, an dem sie einst geboren worden war, doch was sie fand, war immer nur mehr Tod, mehr Blut, mehr Familienmitglieder, die den Pfad zur Jenseitswelt angetreten hatten. Ihre Beine gaben plötzlich unter ihr nach und ihre Knie berührten den Boden, wobei ihr Auge auf ein seltsames Amulett fiel, das vor ihr lag. Als ihre Hand das Amulett berührte und es fast gegen ihren Willen an sich nahm, geschah etwas in ihrem Kopf, das sie sich nicht erklären konnte. Eine wilde Raserei nahm plötzlich von ihr Besitz und trug sie in einen Traum voll roten Blutes, der sie mit sich riss und Zeit und Raum in ihrem Geist auslöschte.

Als sie aus dem Traum wieder erwachte, schien sie sich im Inneren eines Zeltes zu befinden. Und der alte Schamane, der sich über sie beugte, schien erfreut über ihr Erwachen. Verwundert und ein wenig benommen ließ sie sich von ihm erzählen, wie zwei Mitglieder seines Stammes sie nicht weit von diesem Ort beobachtet hatten, alles tötend, was ihr in die Quere kam, sei es Tier oder Ork. Tagelang, so hieß es, hatte dieser Blutrausch angehalten, solange bis zwei Krieger sie überwältigt und in die Obhut des Schamanen gebracht hatten. Der Schamane erklärte ihr, dass alle in seinem Stamm, auch er selbst, der Ansicht seien, der Gott Paagrio, den die Menschen auch Cairon nennen, hätte sie mit seinem Feuer gesegnet. Ein wenig verwirrt lauschte die junge Orkin den Ausführungen des Schamanen und beschloss dann, ihm alles zu erzählen, was ihr widerfahren war und ihn um Rat wegen des seltsamen Amulettes zu fragen, das sie gefunden hatte. Und der Schamane, der den Namen Gorgh trug, erklärte sich schließlich dazu bereit, dem Amulett die Geheimnisse zu entlocken, das es in sich trug. Und so wartete sie zwei Tage und zwei Nächte lang, die sie bei dem fremden Stamm verbrachte, auf die Antwort der Geister, die der Schamane befragte. Immer spürte sie die Blicke der fremden Orks auf sich ruhen, argwöhnisch, misstrauisch, doch sie nahm sie nur mit ihren Instinkten wahr, ihr Geist ruhte in weiter Ferne. Und letztendlich waren die zwei Tage und zwei Nächte vorbei und der Schamane trat aus seinem Zelt, erschöpft und ausgelaugt. Doch die Antwort, auf die sie wartete, brachte er ihr nicht. Die Geister, so sagte er, wollten die Geheimnisse des Amuletts nicht preisgeben. So nahm sie es wieder an sich, dankte dem Schamanen dennoch und beschloss, nach der Antwort zu suchen, überall, und wenn es sein musste, dann vielleicht sogar auch in den Städten der Menschen. Irgendjemanden musste es geben, der die seltsamen Zeichen auf dem Amulett, deren Bedeutung die Geister des Schamanen nicht hatten freigeben wollen, deuten und ihr so möglicherweise einen Anhaltspunkt geben konnte, wer ihre Familie in die Welt jenseits der sichtbaren geschickt hatte. Und hätte sie diejenigen gefunden, die dies getan hatten, so würde sie wieder den blutroten Traum träumen.


- Lelwani - 09.12.2006

II Der Wald


Wie lange sie bereits nach Rache suchte, das wusste sie nicht. Irgendwann hatte sie aufgehört, die Tage zu zählen. Vielleicht waren es zwei, vielleicht auch drei oder mehr Sonnenläufe, in denen sie von Dorf zu Dorf gewandert war und, sofern es ihr möglich gewesen war, ihre Fragen gestellt hatte. Oftmals war sie als Fremde auf Feindseligkeiten gestoßen, manchmal auch auf einige, die ihr helfen wollten, doch niemand konnte ihr Antworten auf die in ihr brennenden Fragen geben. So war sie einfach immer weiter gezogen, hatte die weite Steppe hinter sich gelassen und war über grüne Hügel gewandert, die schließlich in dichte Wälder übergegangen waren. Diese Wälder mit ihren hoch aufragenden Bäumen, die beengend nebeneinander standen, behagten ihr nicht, sie vermisste die endlose Weite der Steppe, doch das Feuer, das in ihr loderte, trieb sie weiter. So kam es, dass sie sich Tag für Tag durch dichter werdendes Unterholz kämpfte, lernte, fremde Tiere zu jagen und in Orkdörfer vorstieß, deren Hütten nicht wie in der Steppe aus hartem Weidengras und Tierhäuten, sondern aus Holzstämmen bestanden. Doch die Erfahrung lehrte sie mit der Zeit, um die meisten dieser Dörfer einen Bogen zu machen, da die Orks, die im Wald lebten, noch feindlicher auf sie reagierten als diejenigen, die sie zuvor auf ihren Wegen angetroffen hatte, und so verblieb sie zumeist ohne Gesellschaft im Wald und hoffte, diesen bald hinter sich lassen zu können, um erneut auf Steppe und auf angenehmere Gesellschaft zu stoßen.
Doch zumindest für diesen Tag blieb ihre Hoffnung unerfüllt und so wie schon so viele Tage zuvor musste sie sich durch das Dickicht des Waldes kämpfen, ihr Kurzschwert dazu einsetzend, sich einen Weg durch das Gestrüpp zu bahnen. Doch plötzlich wurden ihre Instinkte durch das Geräusch eines knackenden Zweiges hinter ihr geweckt. Sie blieb stehen und ließ den Schwertarm sinken, blickte sich zu allen Seiten um. Sie zuckte zusammen, als hinter dem Stamm eines großen Baumes, der sich nicht weit hinter ihr befand, ein Ork von breiter, massiger Gestalt hervortrat, ein breites Grinsen im Gesicht, der Körper narbenübersät; er trug einen riesigen Streitkolben in der Hand. Sie wandte sich zu der Gestalt um, alle Muskeln ihres Körpers angespannt, als aus dem Dickicht links und rechts von ihr weitere Gestalten hervortraten, allesamt Orks, die drohend ihre Waffen erhoben hatten und langsam auf sie zukamen, und aus den Augenwinkeln sah sie, dass sich ihr auch von hinten ein Schatten näherte. Gehetzt wie ein Tier, das sich in die Enge getrieben fühlte, blickte sie abwechselnd zum einen, dann zum anderen und wartete mit klopfendem Herzen auf den ersten Angriff seitens einer der Gestalten. Doch die ließen sich Zeit, wissend, dass sie der jungen Orkin keinen Ausweg gelassen hatten und schritten gemächlich mit erhobenen Waffen und jeder mit einem Grinsen im Gesicht auf sie zu. Und schließlich erfolgte doch der erste Angriff. Sie nahm hinter sich eine Bewegung wahr und konnte im letzten Moment ausweichen, als der Hammer, den der große, muskelbepackte Ork hinter ihr schwang, knapp an ihrem Kopf vorbeisauste. Und schon holte der hagere Ork zu ihrer Linken mit seinem krummen, schartigen Schwert in ihre Richtung aus und traf sie am linken Oberarm. Beinahe zur gleichen Zeit senkte der Ork vor ihr seinen Streitkolben, den sie gerade noch mit ihrem Kurzschwert abwehren konnte, dessen Wucht sie aber in die Knie zwang. Und schließlich griff auch der kleinwüchsige Ork mit den langen Armen zu ihrer Rechten an und ließ seinen Knüppel in ihren Rücken donnern, sodass sie fast zu Boden stürzte. Noch immer kniend, konnte sie gerade noch den Angriff des Orks zu ihrer linken parieren, der sein Schwert in Richtung ihres Kopfes sausen ließ, dann spürte sie den Schlag des Hammers in ihrer Seite, der ein grässlich knackendes Geräusch verursachte. Doch schließlich sandte sie der letzte Schlag des Orks zu ihrer Rechten, der hart auf ihren Hinterkopf traf, in eine Welt aus Schwärze.
Als die Dunkelheit sie wieder verließ, erkannte sie, dass sie sich in einer dieser Hütten aus Holzstämmen befand, die sie auf ihrem Weg bereits öfter gesehen hatte. Sie sah sich verwirrt um, betastete vorsichtig ihren schmerzenden Kopf und wunderte sich, dass sie überhaupt noch lebte. Anscheinend hatte sie jemand auf ein Strohlager inmitten der kleinen Hütte aus Holz gelegt, in der sich außer diesem, soweit sie es erkennen konnte, nichts weiter befand. Das wenige Licht, das in diese Hütte drang, kam von dem breiten Türrahmen direkt vor ihr in die Hütte und nahm seinen Ursprung in einem Feuer, das in der Ferne vor der Hütte loderte. Draußen schien bereits der Abend heranzudämmern. Alle Glieder ihres Körpers schienen zu schmerzen, ihre Wunden waren aber, soweit sie es ertasten konnte, notdürftig versorgt. Wieder fragte sie sich, warum sie noch lebte und wer das wohl getan haben könnte, als sie einen Schatten erblickte, der den Türrahmen ausfüllte und dann langsam näher trat. Trotz des spärlichen Lichtes erkannte sie in der großen, muskulösen Gestalt einen der Orks, der sie angegriffen hatte und zuckte zusammen. Der Ork trat mit einem dreckigen Grinsen auf den Lippen, das gelbe, verfaulende Zähne entblößte, näher und sagte etwas zu ihr, das sie nicht verstand. Nachdem er sie von oben bis unten gemustert hatte, weiterhin grinsend, beugte er sich zu ihr hinab und gab ihr aus einer kleinen Schale zu trinken, die anscheinend klares Wasser enthielt, das mit ein paar Kräutern versetzt worden war. Sie trank gierig, da sie erst jetzt bemerkt hatte, wie durstig sie war. Doch als sie ausgetrunken hatte und der Ork die Schale wegstellte, packte dieser sie am Kinn und richtete mit dem selben Grinsen wieder einige Worte an sie. Sie versuchte angewidert den Kopf zu drehen, was den Ork allerdings nur zu Gelächter animierte. Dann ließ er sie dennoch los, nahm die Schale wieder auf und ging aus dem Haus. Eine grausame Erkenntnis wuchs in ihr: Versuchten die Orks, die sie überfallen hatten, etwa, sie zu einer jener Orkfrauen zu machen, die sie auf ihrem Weg durch den Wald gesehen hatte? Eine von jenen, die manchmal gefesselt hinter Orkmännern hergingen, die manchmal überall Wunden trugen und die immer den Kopf gesenkt hielten? Ein Schaudern überkam sie bei diesem Gedanken; er ließ sie lange nicht los, so lange, bis endlich doch die Müdigkeit siegte und sie in einen unruhigen Schlaf fallen ließ.
Es war noch dunkel draußen, als sie durch ein Geräusch geweckt wurde, das vom Türrahmen zu ihr drang. Als sie die Augen öffnete und in die Richtung sah, wurde sie erneut eines Schattens gewahr, der in der Tür lehnte und der den Schein des Feuers, das in der Ferne loderte und in die Hütte drang, teilte. Die Gestalt, in der sie erneut einen der Orks erkannte, die sie überwältigt hatten, wankte unsicheren Schrittes in die Hütte, um mit einem schmutzigen Lachen schwer vor ihrem Lager niederzusinken. Der faulige, alkoholhältige Gestank seines Atems, der sie plötzlich im Gesicht traf, ließ Übelkeit in ihr hochsteigen und sie versuchte, den hässlichen, aufgedunsenen Körper des Orks von sich wegzustoßen, als dieser ihr die Faust in die linke Seite rammte. Die Schmerzen raubten ihr fast die Sinne, sie sank auf ihr Lager und konnte nichts anderes tun als hilflos dazuliegen, als sie seine groben Hände auf ihrer Haut spürte. Und als seine Hände immer weiter an ihrem Körper entlangglitten, umhüllte ihren Blick plötzlich ein seltsamer Nebel, und das Letzte, was sie wahrnahm, war, wie sich alle Muskeln ihres Körpers anspannten und das dreckige Lachen des fetten Orks in ein erstauntes Gurgeln überging.
Nachdem ihre Sinne langsam wiedergekehrt waren, fand sie sich auf dem Boden kniend. Neben ihrem Lager lag der Ork auf dem Rücken, er rührte sich nicht und hatte Würgemale am Hals. Sie schüttelte sich, um die Benommenheit loszuwerden, die sie noch immer in ihrem Kopf spürte, dann erhob sie sich, kehrte dem Lager den Rücken und wankte unsicheren Schrittes ins Freie. Ob der Ork tot war? Sie wusste es nicht. Und es interessierte sie nicht. Sie wusste nur, dass sie fort musste, weg von diesem Lager, von dieser Hütte und hinein in den Wald, in dem sie noch am ehesten Sicherheit finden würde. Sich an der Außenwand der Hütte festhaltend, setzte sie vorsichtige Schritte weg von dem in ihrem Rücken brennenden Feuerschein und hin zum dunklen Wald, der nur spärlich vom Mondlicht erhellt wurde. Und als sie den Waldrand schon fast erreicht hatte, kam die Erinnerung an den stinkenden Atem des Orks wieder, den sie in ihrem Gesicht gespürt hatte, und sie fühlte erneut die Übelkeit in ihr hochsteigen; ihre Knie gaben unter ihr nach und sie erbrach sich. Es kostete sie viel Kraft, sich wieder zu erheben und weiter auf den Wald zuzugehen. Doch schließlich hatte sie den Waldrand erreicht und suchte im Schutz der Bäume nach einem Versteck, das sie selbst im Tageslicht vor den Augen der Orks schützen konnte. Als sie mit ihren Kräften schon beinahe am Ende war und die Schmerzen in ihrer Seite fast unerträglich wurden, fand sie in einem größeren Felsen eine kleine Höhle, in die sie sich hineinkauerte wie ein krankes Tier. Und schon bald übermannte sie trotz der Schmerzen der Schlaf.


- Lelwani - 10.12.2006

III Begegnungen


Das geschäftige Treiben auf dem Platz dieser Stadt irritierte sie noch immer ein wenig. So viele Menschen auf einem Haufen hatte sie vorher noch nie gesehen. Und es gab nicht nur Menschen hier in der Stadt, die seltsamsten Kreaturen kreuzten ihren Weg. Die kleinen, breiten Gestalten mit verkümmerten Gliedmaßen, von denen ihr die größten unter ihnen kaum bis zur Brust reichten, waren die merkwürdigsten von allen. Die Langohren, die sie auf ihrer Reise bereits vorher getroffen hatte, waren auch sehr zahlreich in dieser Stadt, die die Menschen Dion nannten. Und alle eilten sie über jenen Platz, boten ihre Waren feil oder kauften selbst, redeten lautstark, lachten, tranken, stritten und prügelten sich sogar manchmal. Sie mochte die Drängelei auf diesem Platz nicht gerne, doch hoffte sie dennoch, vielleicht hier endlich auf Antworten zu stoßen, Antworten, für die sie auf ihrer Suche so weit in das Gebiet der Menschen vorgedrungen war. Sie hatte sich bereits unter den Orks dieser Stadt umgehört, derer es zu ihrem Erstaunen nicht wenige gab, doch auch diese konnten ihr nichts von Bedeutung berichten. Und irgendwann hatte sie erkannt, dass sie wohl nie an Informationen kommen würde, wenn sie nicht auch Angehörige der anderen Völker befragte. So hatte sie angefangen, mit Menschen und Langohren zu reden, auch wenn die Sprache der Menschen, die sie sich im Laufe ihrer Reise bruchstückhaft angeeignet hatte, da selbst Orks sich untereinander oft nur in der Menschensprache unterhalten konnten, ihr nicht besonders zusagte. Und sie war auf ein Langohr mit dunkler Hautfarbe gestoßen, das sie bereits vor einiger Zeit in einer anderen Ansiedlung der Menschen kennen gelernt hatte und das die Stadtwache dieser Menschenstadt leitete. Aus einem seltsamen Bauchgefühl heraus hatte sie beschlossen, bei ihm vorstellig zu werden und um den Eintritt bei der Wache zu bitten; etwas sagte ihr aus irgendeinem Grund, dass sie auf diese Weise leichter an Antworten kommen würde.
Oft saß sie unter dem großen Baum, der an der einen Ecke des Platzes in die Höhe wuchs und dachte über vieles nach. Über die große Reise, die sie vor vielen Sonnenläufen angetreten hatte, über das, was ihr seither widerfahren war. Wie sie sich damals mit letzter Kraft aus der Hütte im dichten Wald befreit und sich dann noch ein paar Tage durch das Unterholz geschleppt hatte, das nach einiger Zeit doch lichter geworden war, und wie sie schließlich in dieser großen Orkstadt angekommen war, deren Namen sie nie erfahren hatte. Wie sie dort ein paar entfernte Verwandte getroffen hatte, die sie aufnahmen, und wie sie stunden- und tagelang den Kampf mit der neuen Waffe geübt hatte, die sie für alles Gold gekauft hatte, das sie besaß, um dann an jenen Ort im Wald zurückzukehren und ihre Rache zu nehmen für das, was dort einst geschehen war. Wie sie schließlich weitergezogen war, immer noch auf der Suche nach Antworten, und wie sie schließlich das Gebiet der Menschen angetroffen hatte. Und sie ertappte sich immer öfter dabei, wie sie an diesen Ork dachte, der ihr manchmal auf dem Platz begegnete und mit dem sie öfter ins Gespräch kam. Es wunderte sie, dass sie so oft über ihn nachdachte, denn zuvor hatte sie nie Gedanken an einen Ork verschwendet; wenn ihr einer zu nahe gekommen war, hatte sie sich nur zu oft an den stinkenden Atem des fetten Orks erinnert und oftmals ihre Fäuste sprechen lassen. Doch dieser war anders als die Orks, denen sie bisher begegnet war. Er brachte sie zum Lachen, aber auch dazu, dass sie verlegen auf den Boden sehen musste, wenn er ihr wieder nette Dinge sagte. Und sie bekam immer so ein merkwürdiges Gefühl, wenn er in ihrer Nähe war. All das verwirrte sie, fast genauso wie die ersten Eindrücke dieser menschlichen Stadt, und so saß sie oft unter dem Baum und musste ihre Gedanken ordnen. Und doch, als sie eine vertraute Stimme vernahm, sah sie lächelnd auf und forderte den groß gewachsenen Ork dazu auf, sich neben sie zu setzen.


- Lelwani - 11.12.2006

IV In der Höhle des Werwolfs


„Ich kenne dieses Zeichen,“ murmelte der alte Ork mit dem einen Auge und deutete auf etwas, das er in der Hand hielt. Er sprach zwar ihren Dialekt des Orkischen, allerdings mit einem so seltsamen Akzent, dass sie sich sehr konzentrieren musste, um das zu verstehen, was er sagte. „Ich könnte dir sagen, was ich davon weiß,“ meinte er mit einem schmierigen Lächeln auf den Lippen, „doch... ich weiß nicht, wieso ich dir das erzählen sollte... Stadtgardist!“ Das letzte Wort sprach er so verächtlich aus, dass es beinahe wie ein Schimpfwort klang. Sie spürte die Wut in sich hochsteigen, packte ihn am Kragen und zischte: „Wenn du heute Nacht nicht sterben willst, so sag mir, was du weißt!“ Der Ork, der scheinbar eine ähnliche Reaktion erwartet hatte, grinste sie an und richtete seinen Blick die dunkle Gasse entlang, in der sie sich befanden, und auf das sich im Wind hin- und herbewegende Holzschild mit einem ungelenk aufgemalten Wildschwein darauf, das an einem der recht schäbigen Häuser angebracht war. Er grinste noch immer, nickte mit dem Kopf auf das Haus und sagte höhnisch: „Dort drinnen befinden sich wohl um die zehn starke Krieger, die auf meinen Schrei hin angreifen würden. Das würdest du doch nicht riskieren wollen, nicht wahr?“ In ihrem Blick zeichnete sich für einen Moment Unentschlossenheit ab, so als würde sie die Worte des Einäugigen abwägen. Doch dann war es das Feuer, das in ihr brodelte und kochte, das sie dazu brachte, den Ork noch fester zu packen, sodass seine Füße kaum noch den Boden berührten, und ihn gegen die nächste Hausmauer zu drängen. „Sollen sie nur kommen!“ knurrte sie mühsam beherrscht zwischen ihren zusammengepressten Zähnen hervor, ihr Gesicht so nahe an seinem, dass er ihren Atem spüren konnte, „ich werde den Kampf mit ihnen aufnehmen, wenn es sein muss. Und wenn es sein muss, dabei untergehen!“ Der alte Ork, der bereits vieles gesehen hatte, sah aus ihrem Blick das Feuer sprühen und da wurde ihm klar, dass sie ernst meinte, was sie sagte. Langsam hob er die Hand, die das Amulett umklammert hielt, das sie ihm gereicht hatte, und setzte vorsichtig an, zu sprechen, jedes Wort sorgsam auswählend: „Du... sagtest, die menschlichen Zeichen rund um das Bild sind eine Abkürzung, aber dass du nicht wüsstest, was das Bild in der Mitte bedeutet. Nun... das Bild in der Mitte stellt einen Werwolf dar. Und dieser ist ein Zeichen der Timaks, die vor längerer Zeit aus dem Gebiet der Orks vertrieben wurden. Ich selbst war einst einer von ihnen, bis sie mich als Verräter aus ihrem Stamm jagten, nachdem sie mir mein Auge genommen hatten.“ Er verstummte und blickte die Orkin vor sich mit Unbehagen an. Diese hatte ihn noch immer in ihrem Griff und sah ihn mit einem Blick an, aus dem purer Zorn sprach. Sie schüttelte ihn und herrschte ihn an: „Wo finde ich die Heimstätten der Timaks?“ Der alte Ork, der seine Nervosität jetzt nur noch schwer verbergen konnte, wand sich und presste sich an die Mauer hinter ihm, dann beeilte er sich zu antworten: „Du... findest ihre Hütten in der Nähe der menschlichen Städte Giran und Oren, es... ist nicht weit von hier!“ Die Orkin sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an und erwiderte mit leiser, aber drohender Stimme: „Wenn du nicht die Wahrheit gesagt hast, dann komme ich wieder und töte dich. Und wenn du deine zehn Krieger, die auf dich hören, gegen mich schickst, komme ich wieder und töte dich.“ Mit diesen Worten lockerte sie den Griff, der den einäugigen Ork an der Mauer des Hauses festgenagelt hatte; dann hob sie die Linke und setzte den Ork mit einem Schlag ihrer Faust auf seinen Kopf außer Gefecht. Dann ließ sie ihn neben die Hausmauer fallen, entnahm seiner kraftlosen Hand das Amulett und verließ mit schnellen, entschlossenen Schritten die dunkle Gasse mit den schäbigen Häusern.
Und schon ärgerte sie sich über sich selbst. Dumm war sie gewesen, dass sie ihre Wut wieder einmal über ihre Vorsicht hatte siegen lassen. Dieses alte Schlitzohr hätte tatsächlich zehn Männer zu seiner Verfügung haben können, die sie nur zu leicht hätten töten können. Doch nun wusste sie, dass der Ork ein Verräter war, und sie wusste auch, dass Verräter niemanden hatten, der auf sie hörte. Aber es hätte anders sein können... sie schüttelte über sich selbst den Kopf und nahm sich vor, das nächste Mal zu versuchen, ihren Zorn besser unter Kontrolle zu halten. Dann eilte sie zur Halle der Stadtwache, um so schnell wie möglich das Nötigste für die Reise zusammenzupacken. Um Renor, dem Oberhaupt der Wache, mitzuteilen, dass sie nun ihre Rache vollziehen würde, rammte sie ihr langes Messer mit der gezackten Klinge in die Tür zum Schlafsaal, dann verließ sie die Hallen. Am Hauptplatz Dions angelangt, auf dem sich in dieser mondlosen Nacht niemand befand, schritt sie zum großen Baum und ritzte dort mit ihrem anderen, kleineren Messer orkische Zeichen ein, damit Corback wusste, wo sie war, was sie tat und dass sie, sofern sie es vermochte, bald zurück sein würde. Schließlich verließ sie die Stadt, ihren Hammer geschultert und ein orkisches Lied anstimmend, das von Vergeltung handelte.


- Lelwani - 12.12.2006

V Neue Wunden


Die Flüssigkeit brannte angenehm in ihrer Kehle; „garchcht“ hatte man es in ihrer Heimat genannt, was in der Menschensprache so etwas wie „Medizin“ bedeutete. Wahrscheinlich hieß es so, weil es jedwede Art von Schmerzen vertreiben oder zumindest lindern konnte. Und sie brauchte nun jede Menge davon. Sie blickte mit bereits etwas trübem Blick über den Platz und versuchte, möglichst nicht daran zu denken, was in der letzten Zeit vorgefallen war. Doch immer wieder kamen Bilder vor ihre Augen, Bilder, die sie durch das Schlucken der brennenden Flüssigkeit zu vertreiben suchte, die jedoch trotz alledem hartnäckig von Neuem erschienen. Wenn sie Glück hatte, so zeigten ihr die Bilder ihre Rache am Stamm der Timak, wie sie ihnen aufgelauert und einige von ihnen im Wald vor deren Dorf getötet hatte, bevor sie schließlich die Hütten selbst entdeckt hatte. Wie sie, voll kochender Wut, in das Dorf gestürmt war, der seltsame rote Nebel sich wieder um ihre Augen gelegt und sie, als er sie wieder verließ, in einem Meer aus Blut und Trümmern zurückgelassen hatte. Wie sie mit letzter Kraft dem großen Ork, der plötzlich aus dem Nichts auf sie zugestürmt war, die Kehle durchgeschnitten hatte, nachdem er ihr eine tiefe Wunde am rechten Arm zugefügt hatte.
Wenn sie aber nicht so viel Glück hatte, dann erinnerte sie sich daran, wie sie eines Tages von der Jagd heimgekehrt und ihr der Zutritt nach Dion verweigert worden war. Wie sie schließlich von einigen anderen Mitgliedern der ehemaligen Stadtwache, die ebenfalls vor dem Stadttor standen, erfahren hatte, dass die Rebellen die Stadt eingenommen hatten, als sie alle bei der Einweihung ihres Menschenhäuptlings in einer anderen Stadt verweilt hatten und sie selbst auf der Jagd gewesen war. Wie sie und die anderen Mitglieder der ehemaligen Stadtwache danach von Stadt zu Stadt gezogen waren, auf der Suche nach einem Quartier. Und wie sie eines Tages diesem Ork begegnet war, der... und hier kam eines der Bilder in ihren Geist, das sie am wenigsten ertragen konnte. Sie setzte ihre Feldflasche noch einmal an und trank einen großen Schluck, um dieses Bild wieder zu vertreiben. Doch es schien so, als würde ihr die Medizin nicht helfen: Sie sah das Geschehene plötzlich deutlich vor Augen, so als würde sie das, was sich zugetragen hatte, noch einmal durchleben. Sie sah diesen Ork erneut vor sich, der ihr die Waffe ihres Mannes vor die Füße warf. „Er ist tot,“ sagte er, „er starb als er Rache für seinen Vater nehmen wollte.“
Sie hatte ihm die Nachricht über den Tod ihres Mannes zuerst nicht geglaubt, hatte ihm viele Fragen gestellt, Fragen, auf die er ihr jedoch keine Antwort gab. Sie hatte sich danach oft in der Stadt umgehört und war diesem Ork gegenüber, der sich als der Bruder ihres Mannes ausgab, immer misstrauischer geworden. Und schließlich, als sie ihn wieder traf und zur Rede stellte, wich er erneut ihren Fragen aus, und da erkannte sie es: Er war es, der ihren Mann getötet hatte. Und als sie diese Erkenntnis erlangt hatte, stieg Wut in ihr hoch, eine Wut, die sie so weit trieb, mit ihm vor den Toren Dions zu kämpfen. Sie schloss die Augen, als sie an diesen Kampf dachte. Wie ihre Waffen mit voller Wucht aneinander prallten und wie ihre Wut sie daran hinderte, klar denken zu können. Wie er sie deswegen schließlich in die Knie zwingen konnte mit einem gut platzierten Hieb auf ihren rechten Oberschenkel. Und wie sie sah, dass er zu einem vernichtenden Schlag ausholte, kurz bevor ihr schwarz vor den Augen wurde. Und wie sehr sie sich wunderte, als sie wieder aufwachte, noch immer auf jener Wiese vor Dions Stadttoren liegend, und sich fragte, warum sie noch am Leben war. Wieso hatte er sie verschont? Schließlich war es ihr gelungen, sich zum Tempel Dions zu schleppen, der außerhalb der Stadtmauern lag, sich dort ihre Wunde notdürftig zu verbinden und die beschwerliche Reise zur Halle ihres Clans, der ehemaligen Stadtwache Dions, anzutreten. Auf irgendeine Weise hatte sie es dann geschafft, dort hinzugelangen und sie war unter dem Torbogen zusammengebrochen.
Sie nahm noch einen Schluck der Medizin und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, in der geringen Hoffnung, dass diese Geste vielleicht die Bilder aus ihrem Kopf vertreiben könnte, als sie von Lärm aufgeschreckt wurde, der über den Platz hallte. Froh über die kurzzeitige Ablenkung, sah sie hinüber ans andere Ende des Platzes und erblickte ein paar Dunkelelfinnen, eine Zwergin und einen recht breitschultrigen Ork, die dort anscheinend miteinander tranken. Eine Augenbraue hebend, betrachtete sie kurz recht interessiert diese illustre Gruppe, um sich dann wieder umzudrehen und erneut einen Schluck aus ihrer Flasche zu nehmen. Und plötzlich musste sie an das denken, was sie und ihr Mann vor noch nicht allzu langer Zeit unter diesem Baum besprochen hatten, unter dem sie jetzt saß, damals, kurz nachdem sie bemerkt hatte, dass sie ein Kind in sich trug. Und da spürte sie auf einmal, wie ihre Augen sich langsam mit Tränen füllten. Wie, dachte sie, sollte sie etwa hier mitten auf dem Platz anfangen zu weinen wie ein Weichling? Sie schüttelte sich bei diesem Gedanken, atmete tief durch, nahm noch einen Schluck aus ihrer Feldflasche und beschloss, sich zu dem bunt gemischten Haufen zu gesellen, um Zerstreuung zu finden und um die Bilder endgültig aus ihrem Kopf zu vertreiben.


- Lelwani - 14.12.2006

VI Der Blutschwur


Wind wehte über die Ebene und bewegte das hohe Gras der Arena, als sie das Gelände des Kampfplatzes betrat. Vor ihr sah sie ihn stehen, Grishnak, den Ork, den sie über alles verachtete. Er grinste sie hämisch an, als wäre er sich seiner Sache sicher, und das machte sie noch wütender. Sie zog ihren Streitkolben aus dem Gürtel, denselben Streitkolben, den der Ork, der nun vor ihr stand, ihr vor nicht allzu langer Zeit vor die Füße geworfen hatte, den Streitkolben ihres toten Mannes. Heute würde er das Blut des Mörders seines Besitzers kosten, so hatte sie es sich geschworen. Er hatte sie genug gereizt, alleine mit seiner Anwesenheit. Sie hatte seinen Anblick nicht mehr ertragen können, und als er ihr vor einigen Stunden in Dion über den Weg gelaufen war, hatte sie ihn zum Zweikampf herausgefordert. Sie hatte ihren Sohn, den sie etwa zwei Monde zuvor geboren hatte, Zidist übergeben, dem Ork, den sie vor kurzem zu ihrem Bruder gemacht hatte, sie hatte ihm das Versprechen abgenommen, für ihr Kind zu sorgen, falls das Schicksal ihr im Kampf nicht wohlgesonnen sei. Dann hatte sie sich auf ihre Rache vorbereitet und Rüstung und Körper mit deren Symbolen bemalt, so wie sie es vor einiger Zeit schon einmal getan hatte, als sie losgezogen war, um ihre Familie zu rächen. Und sie war zur Arena gekommen, um dem Ork endlich gegenüberzutreten, um endlich ihre Rache zu bekommen. Und nun stand sie vor ihm, fühlte ihr Blut in ihren Adern brodeln vom Feuer des Hasses. Langsam umkreisten sich die beiden Orks, jeder auf den Angriff des anderen wartend, oder um eine Unaufmerksamkeit des Gegners zu nutzen und die Chance zu ergreifen und zu attackieren.
Vieles hatte sie schon gehört über die Stärke und das Kampfgeschick dieses Orks. Kämpfe nicht mit ihm, hatten viele ihr gesagt, er ist zu stark, du wirst es nicht schaffen. Doch sie hatte nicht auf sie gehört. Sollte sie auf ihre Rache verzichten, nur wegen dieser Worte? Sie hatte verächtlich den Kopf geschüttelt und alle diese Ratschläge ignoriert. Nun war sie hier, umkreiste ihren Todfeind langsam, um auf eine günstige Gelegenheit für den Angriff zu warten. Und schließlich sah sie sie kommen, als der große, muskulöse Ork vor ihr kurz, wohl in einem Moment der Unachtsamkeit, seine Deckung ein wenig öffnete; sie schrie auf und griff ihn an. Doch scheinbar hatte dieser einen solchen Angriff kommen sehen und lenkte die Kraft des Schlages ihres Streitkolbens geschickt mit der Faustwaffe ab, die er in seiner rechten Hand trug, um mit der Faustwaffe in seiner linken in ihre nun ungeschützte rechte Seite zu schlagen. Sie zuckte zusammen, als sie den Schmerz spürte und wich zurück, überrascht; sie fühlte warmes Blut über ihre Seite laufen. Und so standen sie wieder voreinander, jeder auf einen Angriff des anderen wartend. Leichte Unsicherheit erfasste sie; würde sie an diesem Tag hier sterben, war das Schicksal heute nicht auf ihrer Seite? Als würde er ihre Gedanken lesen, schlug der Ork vor ihr seine Faustwaffe in Richtung ihres Kopfes, und sie konnte im letzten Moment ihren Schild hochreißen, um den mächtigen Schlag zu parieren. Sie spürte die Wucht des Schlages, der auf ihrem Schild auftraf, und taumelte nach hinten. Doch, so beschloss sie, so leicht würde sie es ihm nicht machen, sie zu besiegen. Noch einmal brüllte sie auf, hob ihre Waffe und ließ sie auf seinen Kopf niedersausen. Der Ork jedoch drehte seinen Kopf mit einer schnellen Bewegung nach rechts, sodass der Schlag nur seine gepanzerte Schulter traf, was ihm wenig auszumachen schien. Doch nun sah sie es in seinen Augen blitzen, als hätte dieser leichte Treffer ihn erst richtig zornig gemacht; sie zögerte kurz und hob ihren Schild, und da griff er auch schon mit voller Wucht an, attackierte sie wie wild mit seinen Faustwaffen. Den ersten und zweiten Schlag konnte sie noch mit dem Schild und dem Stiel ihres Streitkolbens abwehren, doch dann waren seine Bewegungen so flink und zielsicher, dass sie keinen einzigen seiner Angriffe mehr parieren konnte. Sein letzter Schlag traf sie hart auf dem Waffenarm und sie ließ ihren Streitkolben fallen, vor Schmerz aufkeuchend; dann spürte sie, wie ihre Knie unter ihr nachgaben und sie zu Boden sank. Am Boden liegend, versuchte sie gegen die Schwärze anzukämpfen, die sich vor ihre Augen legte; sie sah nach oben und sah in das grimmige Gesicht des Orks, der sich über sie beugte. „Töte mich!“ flüsterte sie, „bringe es zu Ende. Töte mich, wie du deinen Bruder getötet hast!“ Doch zu ihrer Verwirrung legte der Ork vor ihr seine Waffen beiseite und schüttelte den Kopf. Und schließlich konnte sie nicht länger gegen die Schwärze vor ihren Augen ankämpfen und verlor das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kam und sich umsah, sah sie den Ork, mit dem sie zuvor gekämpft hatte, neben sich sitzen. Er hatte wohl geduldig darauf gewartet, dass sie wieder zu Kräften kam. Sie richtete sich mühsam auf, die Schmerzen, die in ihrem Körper pochten, ignorierend, und sah ihn verwirrt an. „Ich habe noch nie einen Ork getötet,“ sagte er mit ruhiger Stimme zu ihr, „ich wollte es auch jetzt nicht tun. Dein Kind braucht seine Mutter.“ Die Verwirrung in ihr wuchs; sie sah ihn an und fragte: „Du... hast meinen Mann nicht getötet?“ Der Ork mit der imposanten Gestalt schüttelte nur den Kopf. Sie überlegte kurz, dann zog sie mit zitternden Fingern ein kleines Messer aus ihrem Gürtel und reichte es ihm. „Schwöre!“ befahl sie ihm, „schwöre auf dein Blut, dass du es nicht getan hast!“ Der Ork nahm ihr Messer und schnitt sich damit eine recht tiefe Wunde in den Arm, ohne zu zögern oder seinen Schmerz zu zeigen. „Ich schwöre,“ sagte er, während das Messer langsam durch seine Haut glitt und sein Blut auf die Erde tropfte. Sie nickte. Einem Blutschwur misstraute man nicht. Jeder Ork wusste, was mit einem geschah, wenn man auf sein Blut schwor und log. Er reichte ihr das Messer wieder zurück, sie wischte es kurz an ihrem Oberschenkel ab und steckte es sich wieder in den Gürtel. Zögernd fragte sie schließlich: „Wie... ist mein Mann gestorben?“ Er antwortete ihr: „Ich habe dir gesagt, er starb, als er Rache für unseren Vater nehmen wollte.“ Sie nickte wiederum. „Ein ehrenhafter Tod,“ sagte sie schließlich, „wie heißt das Tier, gegen das er kämpfte?“ „Antharas,“ antwortete der Ork. Dann erhob er sich. Sie nickte wieder. Dann holte sie das Messer erneut aus ihrem Gürtel. „Ich werde auch schwören,“ sagte sie, „ich schwöre, dass ich Rache für meinen Mann nehmen und dieses Tier jagen werde.“ Mit diesen Worten fügte nun auch sie sich einen Schnitt an ihrem Arm zu und sah dem Ork dabei in die Augen. Dieser nickte ihr zu. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Zidist, ihr Bruder, mit ihrem Sohn im Arm am Ende der Arena stand; sie leckte vorsichtig das Blut von ihrem Messer, steckte es sich wieder in den Gürtel, erhob sich schwerfällig und trat zu den beiden, um ihr Kind entgegenzunehmen. Als sie ihren Sohn auf den linken, unverletzten Arm nahm, ging Grishnak an ihnen vorbei und versetzte ihrem Bruder einen festen Schlag gegen die Schulter. „Das dafür, dass du gelauscht hast,“ knurrte er und ging weiter. Zidist brüllte auf ob der Beleidigung und lief dem Ork hinterher. Sie sah den beiden nach, verwirrt, dann fiel sie ebenfalls in einen leichten Laufschritt, um sie einzuholen, doch bereits nach einigen Schritten versagten ihr ihre Beine den Dienst und sie sank auf die Knie, schwer atmend. Sie sah in die Richtung, in der die beiden verschwunden waren und versuchte die Lichter, die vor ihren Augen tanzten, zu vertreiben. Ihr wurde klar, dass sie wohl nicht zum letzten Mal mit Grishnak gekämpft hatte.


- Thandorak - 29.08.2008

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- Lelwani - 29.08.2008

OOC: Hier nochmal die Geschichte von Oghtaqas Ende, für alle diejenigen, die sich bei mir beschwert haben, dass sie selbige nicht lesen konnten Wink

Sie spürte weiches Moos und harten Fels unter ihren Füßen, als sie beständig nach Norden ging, in der Dunkelheit. Alleine das Licht des Mondes und ihr Geruchssinn halfen ihr sich zu orientieren. Sie hatte erneut aufbrechen müssen; sie hatte es gespürt. Nur eine kurze Nachricht hatte sie dem Orok Thandorak hinterlassen, ihrem zweiten Mann; sie hatte eines ihrer Jagdmesser in die Eingangstür gerammt, er würde verstehen und, dessen war sie sicher, auch Kakai benachrichtigen. Als sie ihren Weg über den Fels nordwärts fortsetzte, dachte sie an den Traum, den sie oft träumte, dem sie schon einmal ohne Erfolg gefolgt war, und dem sie nun wieder folgen musste. Dieser Traum erinnerte sie schmerzhaft an ihren verlorenen Sohn – Larrkhan. Drei oder vier Winter musste es her sein, dass der Schamanenrat sie bestraft hatte, indem er ihren Sohn fortbrachte, an einen ihr unbekannten Ort. Und in ihrem Traum hatte sie ihn vor sich gesehen, wie so oft, wenn sie träumte. Schon ein paar Mal hatte sie einer dieser Träume dazu gebracht, die Weisungen des Rates zu missachten, die ihr untersagten nach ihm zu suchen. Schon einmal hatte sie sich dadurch in Gefahr gebracht. Doch das hatte sie damals nicht abgehalten, und auch in dieser Nacht hielt es sie nicht ab. Was wussten die Schamanen schon von der Stimme des Herzens, von Treue, von den immer wiederkehrenden Träumen, die sie wissen ließen, dass sie nicht untätig warten konnte!
Wieder hatte sie sich dem Norden zugewandt, aus einem Gefühl heraus. Diesmal jedoch schlug sie eher westliche Richtung ein, weg von ihrer ehemaligen Heimat, hin zu einem Gebiet, das sie noch nicht bereist hatte. Und während sie über die dunklen Felsen, vorbei an vereinzelten Bäumen, über kargen Boden im ausdauernden Dauerlauf lief, versuchte sie das Bild zu vertreiben, das sich immer wieder in ihr Bewusstsein drängte, das Bild, das sie in ihrem Traum gesehen hatte: Das Bild ihres Sohnes, der auf aufgeweichtem Boden lag, auf dessen Gesicht Regen fiel, der weinte und die Arme nach ihr ausstreckte. Er brauchte sie, er rief sie. Und sie musste sich beeilen zu ihm zu gelangen.

Sie war die ganze Nacht und den darauffolgenden Tag unterwegs gewesen, immer im leichten Laufschritt, hatte das felsige Gebiet des nördlichen Unsterblichen Plateaus schon beinahe hinter sich gelassen und die vereisten Berge erreicht, die an das Plateau angrenzten, als es dunkel wurde und sie sich endlich zu einer Rast zwang. Sie ließ sich an einem kleinen Hang in Sichtweite zu den Bergen nieder, der im Windschatten lag und guten Schutz vor rauem Wetter bot, dann aß sie von dem spärlichen Proviant, den sie mit sich führte. Und trotz der Müdigkeit des vorangegangenen Tages fand sie lange keinen Schlaf; erst als die ersten Sterne den dunkelblauen Himmel zierten, kam ihr Geist zur Ruhe.

Drei weitere Tage verbrachte sie, indem sie sich durch die verschneiten Berge kämpfte, wenig rastend, Wind und Wetter trotzend, sich stetig gen Nordwesten bewegend. Es schneite hier und da und einige Passagen wurden dadurch unzugänglich, und so musste sie immer wieder Umwege suchen, die sie vom Kurs abbrachten und verlangsamten. Am vierten Tag ihrer Wanderung schließlich konnte sie trotz alledem die eisigen Berge hinter sich lassen und die Ebene dahinter betreten. Der Herbstwind wehte über die noch nicht von Schnee bedeckte Steppe und brachte den Geruch von einem nahenden Wetterumschwung mit sich. Dieser Geruch, der ihr nur allzu vertraut war, signalisierte ihr, sich bald einen Unterschlupf zu suchen. Sie sah sich um. Das Gras stand immer noch hoch, doch nun, da es Herbst war, hatte es sich bereits braun verfärbt. Es würde nicht lange dauern, dass eine Schneedecke darüber fiel und die Ebene ganz zudeckte. Bäume wuchsen hier keine mehr, und die Herden der Uthmugs waren bestimmt bereits weiter nach Süden gezogen. Sie setzte ihren Weg fort und hielt immer noch Ausschau nach einem Unterschlupf. Schließlich entdeckte sie einen höheren Felsen, der sich aus der Ebene erhob, und steuerte darauf zu. Der Geruch von sich veränderndem Wetter wurde stärker und trieb sie an in die Nähe dieses Felsens zu gelangen. Vielleicht besaß er ja Höhlen, Felsspalten oder zumindest Vorsprünge, unter denen man vor Schnee und dem eisigen Wind Schutz suchen konnte. Kaum jedoch war sie nur noch ein paar Schritte vom Fels entfernt, da sie etwas anderes witterte, einen Geruch, der sie aufmerksam werden, sich anspannen ließ. Etwas war in der Nähe; sie spürte förmlich dessen Anwesenheit. Ihre Muskeln spannten sich. Dem Geruch nach musste es ein Orok sein, doch nichtsdestoweniger sagte ihr ihr Instinkt, vorsichtig zu sein. Langsam legte sie ihre rechte Hand an den Schaft ihres Streitkolbens, der an ihrem Gürtel hing und ohne den sie nie reiste. Aufmerksam sah sie sich um und setzte jeden ihrer Schritte mit Bedacht. So näherte sie sich dem Geruch, Schritt für Schritt, als sich in der Nähe des Felsens etwas bewegte. Sofort zog sie ihre Waffe und rief: „Zeig dich, wenn du Mut hast!“ Nun erhob sich eine Silhouette nahe dem Felsen, und sie konnte einen Orok ausmachen, der sich anscheinend dort niedergelassen hatte. Er hatte die Hände erhoben, um ihr zu zeigen, dass er keine Waffe gezogen hatte, und rief: „Hier bin ich! Ich suche keinen Streit!“ Langsam senkte sie den Streitkolben und trat auf ihn zu. Der Orok vor ihr am Fels stand immer noch, er war jung, recht schmaler Natur und scheinbar ein einfacher hier ansässiger Jäger. Seine Waffen hatte er abgelegt, er war schlicht gekleidet und sein dunkelbraunes Haar hatte er nach hinten gebunden. Auf seiner Brust prangte das Stammeszeichen eines ihr nicht bekannten Unterstammes der Urutu. „Tejakar oroka!“ grüßte sie und senkte ihre Waffe nun ganz, als sie vor ihm stand. Der Fremde nickte als Erwiderung und meinte: „Das Wetter schlägt um. Du solltest Schutz suchen.“ „Kha,“ antwortete sie knapp, und der Orok wies hinter sich; dort befand sich der schmale Eingang zu einer Höhle, die in den Fels zu führen schien. Dann meinte er: „Dort gibt es Platz für zwei!“ Sie verengte die Augen ein wenig und musterte den Fremden. Führte er etwas im Schilde? Doch schon ein paar Momente nach diesem Gedankengang schüttelte sie den Kopf. Sie war wohl seit ihrer Zeit als Anführerin der Wehr Kakais zu misstrauisch geworden. Vor ihr stand schließlich nur ein einfacher Jäger, und falls er selbst nur den Gedanken fassen sollte, ihr etwas zu tun, hätte sie schon zehnmal die Gelegenheit gehabt ihn kampfunfähig zu machen. Schließlich nickte sie und erwiderte: „Danke für dein Angebot! Ich werde es annehmen!“ Der Fremde trat wortlos zur Seite um ihr den Weg in die Höhle freizumachen.

Die Höhle im Felsen war eng und sie beide konnten nur sitzen; doch Platz hatten sie zumindest genug, um einander nicht berühren zu müssen. Der Dunkelheit im Inneren der Höhle folgte die Dunkelheit draußen auf der Ebene. Ein Sturm schien aufzuziehen, der die Sonne verdeckte und gegen den Eingang der Höhle blies. Nichts, was ihr ungewohnt war, hatte sie solche Stürme doch selbst in den kleinen Tierhautzelten ihres Stammes er- und überlebt. Und so konzentrierte sie sich weniger auf das Unwetter draußen, sondern vielmehr auf den Jäger, der neben ihr saß. Er schien erst höchstens zwanzig Winter gesehen zu haben, war eher drahtig als muskulös, und wies noch wenige Kampfnarben auf. Offensichtlich hatte er in seinem Leben noch nicht viel mehr als diese Ebene und deren Tiere gesehen. „Wie ist dein Name?“ fragte sie schließlich, um der Höflichkeit Genüge zu tun. „Morrak, Sohn des Khork,“ antwortete der Jäger. Sie nickte und erwiderte, wie es die Tradition verlangte: „Mein Name ist Qorrgag, Tochter des Urkumaq.“ Sie war es nun schon beinahe gewöhnt, diesen ihren früheren Namen zu nennen, wenn sie eine dieser Reisen antrat. Schließlich konnte man nie wissen, was geschehen würde. Es war keine Feigheit, sondern Vorsicht. Nun, da genug der Förmlichkeiten ausgetauscht war, verstummten die beiden wieder und lauschten dem tobenden Sturm draußen vor der Höhle. Und ihre Gedanken schweiften wieder ab zu dem Traum, den sie gehabt hatte, der sie zu einem weiteren Mal auf eine Reise geschickt hatte; auch wenn sie versuchte, an andere Dinge zu denken, immer wieder kam dieses Bild vor ihr inneres Auge, das sie nicht zu unterdrücken oder abzuschütteln vermochte. Sie seufzte und schloss ihr Auge. „Bist du von weit her?“ fragte plötzlich Morrak, der Jäger, und unterbrach damit ihre Gedankengänge. Sie sah auf, etwas überrascht, dass der junge Orok wohl tatsächlich nicht nur Höflichkeiten austauschen, sondern ein Gespräch beginnen wollte. „Ja,“ antwortete sie, nicht wirklich gewillt, weiter über ihre Herkunft zu berichten. „Mein Dorf ist nicht weit von hier,“ fuhr der Jäger fort, „und Gäste sind dort immer willkommen, wenn sie Fremde sind und interessante Geschichten erzählen können. Nicht viele Fremde kommen in diese Gegend!“ Sie nickte, äußerlich ruhig, innerlich recht überrascht über diese plötzliche Einladung. Ob er damit etwas bezweckte? Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden. „Kha,“ erwiderte sie, „ich verstehe. Ich werde die Gastfreundschaft deines Dorfes auf die Probe stellen.“

Tatsächlich, nachdem der Sturm sein Ende genommen hatte und sie sich auf den Weg gemacht hatten, erreichten sie nach nicht allzu langem Marsch nach der Abenddämmerung Morraks Dorf. Es erinnerte sie sehr an ihre Heimat; das Dorf bestand aus Tierhautzelten, die schnell ab- und wieder aufgebaut werden konnten, so wie einst ihr Stamm gelebt hatte. Und trotz der vorgerückten Stunde waren immer noch einige Oroka zwischen den Zelten unterwegs, schürten das große Feuer in der Mitte des Platzes, den die Zelte umgaben oder kümmerten sich um Ausbesserungsarbeiten bei vom Sturm beschädigten Zelten. Sofort als die beiden Ankömmlinge in die Nähe des Zeltkreises traten, wandten sich einige der Dorfbewohner von ihren Arbeiten ab hin zu dem jungen Jäger und der Fremden, die ihn begleitete. „Tejakar oroka!“ grüßten sie, Morrak recht freundlich, seine Begleiterin reserviert. „Tejakar oroka!“ grüßten die beiden Oroka zurück. „Wer bist du?“ fragte ein grauhaariger Ork die bereits etwas ältere Kriegerin mit den vielen Kampfnarben und dem einen Auge, die sich in einfache, lederne Gewandung hüllte. „Eine Reisende,“ antwortete diese knapp, „Qorrgag, Tochter des Urkumaq.“ Als auch die anderen sich vorgestellt hatten, schien nun die Skepsis der Bewohner gewichen und sie luden sie an ihr Feuer ein, um das einige lange Baumstämme gelegt und Felle darauf ausgebreitet worden waren. Und natürlich wurde sie um Geschichten gefragt, während man ihr Fleisch und garchcht anbot, und wie die Höflichkeit es gebot, erzählte sie, dabei achtete sie jedoch darauf, dass sie nur von einigen belanglosen Begebenheiten berichtete, die vielleicht darauf schließen ließen, dass sie Anführerin einer kleineren Truppe, jedoch nicht darauf, wer genau sie war. Und die Bewohner des Dorfes hörten interessiert zu und stellten viele Fragen; so wurde der Abend, wurde die Nacht lang und dehnte sich bis zu dem Zeitpunkt, an dem die ersten rötlichen Sonnenstrahlen über die Ebene krochen.

Erst am darauf folgenden Tag, nachdem sie bis in den Mittag im Zelt des jungen Jägers geschlafen und noch einen Abend die Gastfreundschaft des Stammes genossen hatte, brach sie wieder zu ihrer Reise auf. Natürlich hatte sie auch Gelegenheit gehabt sich im Dorf ein wenig umzusehen, doch keines der Kinder, die dort lebten, war in dem Alter, in dem ihr Sohn nun sein musste. So musste sie weitersuchen, und sie beschloss aus einem Bauchgefühl heraus sich nun nach Westen zu wenden. Sie verabschiedete sich so, wie es die Tradition verlangte, und ging schließlich, die aufgehende Sonne im Rücken, weiter ihrer Wege.
So heftig das Unwetter am vorangegangenen Tage gewesen war, so klar war nun der Himmel; die Strahlen der Sonne fielen auf die grasbewachsene Ebene und tauchten sie in rötlichgoldenes Licht. Nur hier und da erinnerten Pfützen am Boden und in Büscheln abgeknickte Grashalme an das Unwetter, das getobt hatte. Sie wusste nicht, ob es in der Richtung, in die sie nun ging, überhaupt noch orkische Ansiedelungen gab, oder wie bald sie an das Große Wasser stoßen würde, doch es war einen Versuch wert, in diese Richtung weiterzumarschieren. Und so vergingen die Stunden, die Sonne wanderte höher an den Himmel, auch wenn sie zu dieser Jahreszeit so weit oben im Norden schon lange nicht mehr den Zenit erreichte. Und sie vertrieb sich die Zeit damit, nach Beute auszuschauen, denn sie verspürte langsam Hunger und ihr Proviant war nahezu aufgebraucht. Es bereitete ihr Freude, sich auf eine so einfache Sache zu konzentrieren, Ausschau zu halten, Spuren zu lesen… es war beinahe so, wie es früher war. Nur die weite Ebene und sie, die Jägerin. Die nun bald nicht weit abseits ihres Weges eine kleine Herde Uthmugs fand und grinste. Jetzt galt es sich heranzupirschen, sich eine Taktik zu überlegen – es war so einfach; die bevorstehende Jagd ließ sie alle ihre schweren Gedanken vergessen. Sie zog ihren Streitkolben. Wie sollte Jagd denn schließlich Spaß machen, ohne dass man richtig mit der Beute kämpfte? Sie grinste und prüfte die Windrichtung, duckte sich dann ins Gras und näherte sich dem Wild entgegen dem Wind. Sie spannte ihre Muskeln, weiter aus purer Lebenslust grinsend, und schlich sich an. Sie erspähte ein Jungtier, das etwas abseits der Herde stand; sie beschloss, ihre Jagd auf dieses Tier zu konzentrieren, es vielleicht durch Rufe weiter von den anderen abzusondern und dann mit ihm zu kämpfen. Und gerade, als sie sich anschlich, als sie fühlte, wie die gewohnte freudige Anspannung angesichts des bevorstehenden Kampfes durch ihren Körper lief, spürte sie einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Sie stürzte völlig überrascht nach vorne auf die Knie und ließ den Streitkolben fallen. Sie sah helle Lichter vor ihren Augen tanzen, doch sandte der Schlag sie nicht vollständig in die Nacht. Sie spürte warmes Blut aus ihrer Nase rinnen; es tropfte auf den Boden. Da sie immer noch leuchtende Sterne sah, konzentrierte sie sich auf ihre restlichen Sinne, darauf, dass die Schwärze sie nicht übermannte, und als ein zweiter Schlag von hinten auf sie zukam, konnte sie sich abrollen und diesem um Haaresbreite entgehen. Nun erst, als sie auf dem Rücken lag und die Lichter vor ihren Augen wieder langsam verloschen, sah sie ihren Angreifer. Sie blickte in ein grimmig verzogenes, von der Sonne beleuchtetes, orkisches Gesicht. Es war Morrak, der Jäger. Neben ihm standen noch drei weitere junge Oroka. „Khrzmk!“ fluchte sie und schüttelte sich, als ihr Angreifer seine Waffe, einen Langspeer, erneut erhob, „was soll dieser feige Angriff?“ Zur Antwort senkte Morrak seinen Speer auf sie herab, sodass sie sich erneut abrollen musste, um dem Stoß zu entgehen. „Feige?“ rief er erzürnt, „Und das aus deinem Munde, Qorrgag, Tochter des Urkumaq? Du, die du meinen Vater feige getötet hast, als er sich niederbeugte, um einem Verwundeten zu helfen?“ Diese Fragen verwirrten sie vollends. Wovon sprach dieser junge Orok? Doch sie hatte keine Zeit zu überlegen. Schon hob der junge Jäger seinen Speer erneut und sie, die eben noch nach ihrem Streitkolben getastet hatte, der sich irgendwo neben ihr am Boden befinden musste, musste erneut einem seiner Stöße ausweichen. Nun allerdings, da sie ihr Augenmerk auch auf seinen Kampfstil richten hatte können, fiel ihr auf, wie unbehände und ungeschickt er vorging; es war, als würde er versuchen nicht sie, sondern ein von der Jagd verwundetes Tier zu töten. Es war wohl das erste Mal, dass er gegen einen Orok kämpfte. Sie würde diese Schwäche auszunutzen wissen, doch erst wollte sie herausfinden, wovon dieser Junge eigentlich redete. Wieder stieß er mit seinem Speer nach ihr und sie wich aus, doch diesmal ergriff sie den Speer mit beiden Händen und trat gegen sein Bein. Völlig überrascht ließ er los und sie hielt seinen Speer in den Händen. Nun allerdings setzten sich die anderen drei jungen Oroka in Bewegung, die bis jetzt dem Kampf nur zugesehen hatten. Sie traten näher, ihre einfachen Waffen gezückt, und bildeten einen Kreis um sie, die inzwischen Gelegenheit gehabt hatte aufzustehen. „Warum getraust du dich nicht, mich alleine herauszufordern?“ rief sie und hielt Morrak das Ende des Speers an die Kehle, um die anderen am Eingreifen zu hindern, „warum hast du nicht schon versucht, mich in der Höhle zu töten, als ich dir meinen Namen nannte?“ „Ein Zweikampf?“ knurrte der junge Jäger und verzog in hilfloser Wut das Gesicht, „mit einem Feigling, der Oroka hinterrücks tötet? Niemals! Das wäre zuviel der Ehre für einen hinterhältigen Hund wie dich!“ „Du hast Angst, hm? Angst dich mir alleine zu stellen! Aber jetzt sprich! Von welchem Kampf, den ich angeblich unehrenhaft ausgetragen habe, redest du?“ fragte sie nun und richtete ihren Blick auf Morrak, nicht jedoch ohne zu versuchen die anderen im Auge zu behalten. Der Jäger rief: „Du weißt ganz genau, wovon ich rede! Oder hast du die Schlacht bei den dreckigen bukktorgha etwa schon vergessen?“ Überrascht sah sie ihn an. Natürlich, diese Schlacht hatte sie mitnichten vergessen! Doch sie erinnerte sich nicht daran, einen Wehrlosen getötet zu haben… Ihre Gedanken führten sie für einen Moment lang zurück zu jenem Ort, zu jenem Zeitpunkt, als sie diese Schlacht geführt hatte. Sie wusste noch genau, es war eine ihrer früheren Reisen nach Norden gewesen, die dasselbe Ziel gehabt hatte wie diese: ihren Sohn zu finden. Dann war die Gruppe, mit der sie gereist war, überfallen worden, da sie irrtümlich für jemand anders gehalten worden waren, wie es sich herausstellte. Und schließlich hatten sie eine Schlacht gekämpft, zusammen mit dem Stamm der bukktorgha, der sie aufgenommen hatte. Denn es war der andere Stamm, die thancha, derjenige gewesen, der angegriffen hatte, sie hatten sich nur verteidigt. Und außerdem hatten die Angreifer ein ganz anderes Stammeszeichen… ihr Blick fiel wieder auf die Tätowierung des jungen Orok und plötzlich erinnerte sie sich an noch etwas: Sie hatte an diesem Tag der Schlacht eine kleinere Truppe angeführt und natürlich einige der Angreifer getötet. Die meisten der Angreifenden, die ihr begegnet waren, trugen ein ihr fremdes Stammessymbol. Bis auf einen. Er hatte dieselbe Tätowierung getragen, wie dieser junge Orok vor ihr sie trug. „Thok,“ sagte sie nun ruhiger, den Speer weiter an seine Kehle haltend, „ich habe diese Schlacht nicht vergessen!“ Sie bemerkte es zu spät, hatte sich wohl zu sehr ablenken lassen; sie sah nur, wie der junge Orok seinen Blick kurz auf die Seite lenkte, ehe er ihn wieder auf sie richtete. Nur den Bruchteil eines Moments darauf traf sie ein Schlag von hinten gegen ihre Kniekehle, worauf sie in die Knie ging. Beinahe zum selben Zeitpunkt spürte sie den Schlag einer stumpfen Waffe, erneut gegen ihren Hinterkopf, und schließlich einen Stockhieb gegen ihren Rücken, sodass sie auf alle Viere sank. Sie kämpfte erneut mit tanzenden Lichtern und fluchte in Gedanken. Von vier solchen Jungspunden hatte sie sich austricksen lassen! Aber noch war sie nicht besiegt und die vier Oroka im Kampf unerfahren. Und noch hielt sie den Speer in den Händen. In dem Augenblick bemerkte sie, dass Morrak auf den Speer treten wollte und zog ihn gerade noch rechtzeitig weg, sodass der junge Jäger sein Gleichgewicht verlor und erst einmal festen Stand wiedererlangen musste. Dann schaffte sie es, sich wieder halb aufzurichten und mit dem Speer einen Rundumschlag zu vollführen, sodass die übrigen drei auswichen. So gewann sie Zeit. Sie stieß einen Kampfschrei aus, um die vier jungen zu verunsichern, dann führte sie, nun vollständig aufstehend, einen zweiten Rundumschlag aus. Dieser traf einen der jungen Oroka, worauf er keuchend seine Waffe, einen einfachen Holzprügel, fallen ließ, die anderen drei schafften es auf Distanz zu gehen. „Kha,“ rief sie, als sie sich so ein wenig Luft verschafft hatte, „vielleicht war es dein Vater, den ich getötet habe! Doch ich habe ihn in einem gerechten Kampf getötet! Er war nicht wehrlos! Er stand mir mit seiner Waffe gegenüber!“ „Du lügst!“ rief Morrak und stürzte im aufwallenden Zorn nach vorne. Da er blind vor Wut angriff, war es ihr ein Leichtes, seinem Angriff zu entgehen und ihm, als er an ihr vorbeistürzte, einen Schlag mit dem Stiel ihres Speers zu verpassen, sodass er taumelte und zu Boden stürzte. „Lügnerin!“ rief einer der anderen Oroka und griff nun ebenfalls mit seinem hölzernen Speer an; dieser tat es jedoch etwas überlegter, und so entwickelte sich ein kurzer Schlagabtausch, wobei sie immer ein Auge auf die beiden übrigen haben musste. Kurz nur erinnerte sie sich daran, wie sie mit diesem Orok mit der unterschiedlichen Tätowierung gekämpft hatte. Er war ein guter Kämpfer gewesen, das war ihr noch im Gedächtnis geblieben, und lange hatten sie einen Zweikampf ausgefochten, bis sie ihn endlich besiegte. Sie erinnerte sich auch noch genau an dessen Waffe, einen kunstvoll gearbeiteten Zweihänder nach Art der Urutu. Vielleicht war er ein Stammeshäuptling gewesen.
Aus ihrem Augenwinkel bemerkte sie, dass Morrak wieder aufgestanden war und zu einem Angriff ansetzte; sie konnte einem Fausthieb von seiner Seite entgehen, doch dem angreifenden Orok, der sich ihr von der linken Seite genähert hatte, konnte sie nun nichts entgegensetzen. Dieser hatte ausgenützt, dass sie durch ihr fehlendes linkes Auge auf dieser Seite einen großen toten Winkel hatte und schlug mit seiner Axt eine Wunde in ihre Seite. Sie keuchte vor Schmerz auf und spürte das Blut über ihre Haut fließen. Doch hatte sie genug Beherrschung, sich nicht von dieser plötzlichen Pein übermannen zu lassen und wandte sich nach links, um dem Angreifer die Stirn zu bieten. „Ich weiß es genau!“ rief Morrak, der Jäger, „der Bruder meines Vaters hat es genau gesehen! Du hast ihn getötet, als er keine Waffe trug! Und außerdem hat er gehört, wie die elenden bukktorgha deinen Namen riefen: Qorrgag, Tochter des Urkumaq, so nannten sie dich! Heute werde ich meine Rache bekommen!“ Und mit diesen Worten stürzte er sich auf sie.

Als sie wieder zu sich kam, dämmerte bereits der Abend heran und die ersten Sterne erschienen am Himmel. Sie kniete am Boden, im niedergetrampelten Gras. Was war geschehen? Sie blickte verwirrt an sich herunter. Ihre Hände waren blutig und in ihrem Kopf pochte ein dröhnender Schmerz. Auch überall an ihrem Körper war Blut, sie roch und schmeckte es sogar intensiv. Dann sah sie sich um. Die Spuren des Kampfes waren überall zu sehen, das Gras war auf den Boden gedrückt worden und auch um sie herum sah sie Blutspuren. Dann wurde sie der liegenden Körper gewahr, die sich nicht weit von ihr entfernt befanden. Sie erhob sich, mühsam, sie fühlte sich todmüde und der Schmerz wurde stärker. Dann trat sie zu den am Boden liegenden Gestalten. Es waren ihre vier Angreifer, sie alle waren tot und lagen mit verdrehten Körpern verstreut vor ihr im Gras. Sie hatte sie wohl in Rage getötet; an ein paar von ihnen konnte sie sogar Bissspuren erkennen. Sie kniete sich nieder, um den vier jungen Oroka die letzte Ehre zu erweisen. Sie hatten tapfer gekämpft, waren würdige Gegner gewesen; und auch wenn es ihr nicht zustand, sie durch Paagrios Feuer zu ihren Ahnen zu schicken (denn das war die Aufgabe eines Schamanen), so konnte sie sie wenigstens auf den Rücken drehen, ihre Arme vor der Brust verkreuzen, ihnen ihre Waffen auf den Bauch legen und ihre Augen schließen. Gerade als sie beim letzten der vier, bei Morrak, angekommen war und auch ihm die letzte Ehre erweisen wollte, hörte sie von Osten her ein Geräusch, wie etwas, das sich schnell näherte. Oder jemand. Viele. Und da wurde ihr mit einem Schlag klar, dass die vier von ihrem Stamm bestimmt vermisst worden waren, dass man sie bestimmt gesucht hatte; und dass, wenn man sie mit den vier Toten finden würde, man keinem ihrer Worte, sei es auch noch so vernünftig, Gehör schenken und Rache nehmen würde. So rasch es ihr möglich war, stand sie auf und sah sich fieberhaft nach ihrem Streitkolben um, als die Geräusche immer lauter wurden, begleitet von Rufen. Und weiter hinten, dort, wo es dunkel zu werden begann, schienen sich Schatten in ihre Richtung zu bewegen. Sie waren schon ziemlich nahe. Nun konnte sie bereits deutlich die Schatten als einige bewaffnete Oroka erkennen und sie beeilte sich, ihre Waffe zu finden. Doch die schien wie verschwunden; hektisch sah sie sich um, bewegte ihre Finger durch das noch aufrecht stehende Gras, ging ein paar Schritte, doch der Streitkolben war nicht zu finden. Und dann war es zu spät, weiter zu suchen. Die Oroka rückten schnell näher, die Stimmen, die riefen, erklangen nun schon so nahe, dass sie sie verstehen konnte. „Dort drüben!“ rief einer, „dort steht jemand!“ Nun musste sie etwas tun, was ihr zutiefst widerstrebte, das jedoch wohl die einzige Möglichkeit war, ihr Leben zu retten: Sie begann zu rennen. Sie spürte einen Schmerz in ihrer Seite, doch nun musste sie ihn ignorieren und weiterlaufen. „Er läuft weg!“ rief jemand, „hinterher!“ Sie beeilte sich, so gut sie konnte, lief weg von dem mobilisierten Suchtrupp, weiter nach Westen. Bald begann jeder Atemzug, den sie tat, in ihrer Seite zu stechen und sie musste ihr Tempo etwas verlangsamen, um den aufkommenden Schwindel zu bekämpfen. Ihre Augen suchten nach einer Möglichkeit sich zu verbergen, irgendwo in der weiten Ebene, und dort, nicht weit entfernt, entdeckte sie eine Ansammlung von niedrigen Bäumen, recht ungewöhnlich für diesen Ort, doch sie dachte nicht weiter darüber nach; sie änderte die Richtung und steuerte darauf zu.

Am Vortag war die kleine Gruppe von Oroka aufgebrochen, nach Süden, dort, wo einer der größeren Tempel des Paagrio stand, hoch oben in den Bergen. Und da sie mehrere Kinder mit sich führte, war sie öfter gezwungen, Rast zu machen. So auch nun, da es dämmerte; sie hatten sich ein kleines Wäldchen ausgesucht, das ungewöhnlicherweise mitten auf der sonst spärlich bewachsenen Ebene wuchs, das jedoch guten Schutz vor Wind und Wetter bieten sollte. Und als der große Aufruhr begann, war die Hälfte der erwachsenen Oroka gerade auf der Jagd und die Kinder spielten im Wald.

Als sie lief, bemerkte sie, warum es im Osten so früh dunkel geworden war; Wolken zogen auf und sandten nun ihre ersten Tropfen auf die Erde. Sie erinnerte sich daran, was Karpash, Sohn des Kartokh, von den bukktorgha, über ihren Konflikt mit einigen Stämmen weiter südlich, darunter auch den thancha, gesagt hatte. Seine Schilderung damals hatte sie ein freudloses Lachen gekostet; wenn die Sache nicht so ernst gewesen wäre, wäre sie einfach nur lächerlich. Der Konflikt war nur deswegen entstanden, weil angeblich der Großvater des jetzigen Stammeshäuptlings der bukktorgha einst den Vater des Vaterbruders des jetzigen Stammeshäuptlings der thancha beleidigt haben sollte. Und kaum waren die beiden als Häuptlinge gewählt worden, hatten sie ihre beiden Stämme mit in die Streitigkeiten gezogen. Und weitere Stämme waren in den Konflikt eingetreten. Sie seufzte. Die Oroka wären geeint ein starkes Volk, das nichts und niemand aufhalten könnte – wenn sie sich nur nicht ständig selbst im Wege stünden. Wenn sie nicht endlich einmal geeint kämpfen würden, anstatt wegen lachhafter Gründe immer nur gegeneinander anzutreten. Sie schüttelte die Gedanken ab. Sie musste sich zu sehr konzentrieren weiterzulaufen, hin zu dieser Gruppe von Bäumen und weg von den ihr folgenden Oroka, die schnell aufholten und ihr bereits beinahe in Steinwurfnähe auf den Fersen waren. Die Regentropfen fielen nun dichter und begannen den Boden aufzuweichen, als sie die Gruppe von Bäumen erreichte und hinein unter das Schutz bietende Blätterdach lief. Spielende orkische Kinder kamen ihr entgegen und sie konnte den meisten gerade noch ausweichen – bis auf einem. Sie spürte einen harten Stoß in ihre Seite, dort, wo sie eine Wunde trug, und keuchte vor Schmerz auf, musste innehalten. Das Weinen eines Kindes drang an ihr Ohr und sie drehte sich halb herum. Und da wusste sie, dass sie gerade ihrem Schicksal begegnete: Vor ihr lag ein Kind rücklings auf dem nassen Boden, ein etwa vierjähriger Junge mit pechschwarzem Haar. Regen fiel durch das Blätterdach der Bäume auf sein Gesicht und er weinte, streckte die Arme aus, wie als um sie darum zu beten, ihn in den Arm zu nehmen. Wie vom Donner gerührt stand sie da und sah ihn an. Es schien ihr fast, als würde die Zeit stillstehen, als wähnte sie sich wieder in dem Traum, der sie so lange, so oft fortgetrieben hatte, hinaus in die weiten Lande der Oroka. Er brauchte sie, er schien sie zu rufen. Sie tat einen, zwei unsichere Schritte auf ihn zu. „L…“ stammelte sie, als sie plötzlich die Realität einholte. „Dort ist sie!“ rief eine Stimme ihr gegenüber und zwischen den Bäumen tauchten einige Oroka auf, viele Oroka, alle mit gezogenen Waffen und vor Wut verzerrten Gesichtern. Ihr blieb gerade einmal genug Zeit, ihr gezacktes Messer vom Gürtel zu ziehen und einen Schritt nach vorne zu machen, um sich vor das am Boden liegende Kind zu stellen. Sie durften ihn nicht kriegen! Sie durften ihm nichts tun! Sie würde ihn beschützen! Und schon trafen die ersten Oroka auf sie, Waffe traf auf Waffe, begleitet von dem wütenden Geschrei derer, die weiter hinten waren, auf den Kampf hofften und vorandrängten. Bald schon war sie umzingelt, erwehrte sich nur noch mit Mühe der immer zahlreicher werdenden Angreifer, auch wenn sie schon einige von ihnen töten oder verwunden hatte können. Doch wenigstens konnte sie ihren Sohn schützen… kurz schaffte sie es, sich zu ihm umzudrehen; doch er lag nicht mehr auf dem Boden. Nun befand er sich in den Armen einer fremden orkischen Frau, die ihn tröstete. Wer war das und was machte sie da mit ihrem Sohn? Sie sollte ihr ihr Kind wiedergeben! Doch ehe sie sich Raum verschaffen konnte, um zu den beiden zu gelangen, traf sie der harte Schlag einer stumpfen Waffe in die Magengrube. Sie krümmte sich; kurz darauf traf sie der Hieb einer Axt in die verwundete Seite und ließ sie ächzend auf die Knie sinken. Das letzte, was sie noch schaffte, war, ihr Messer in den Oberschenkel eines der Angreifenden zu rammen, dann traf sie eine spitze Klinge in die Brust. Ein keuchender Laut drang aus ihrer Kehle, als der Orok sein Messer in ihrem Brustkorb umdrehte, als er es herauszog. Sie spuckte Blut, dann sank sie nach hinten auf den Rücken, spürte, wie das warme Leben langsam aus ihr herausfloss. Sie fühlte sich schwach, kalt, müde. Sie hatte genug vom Kämpfen, wollte schlafen. Sie spürte einige Tritte ihrer Angreifer; sie hörte sie johlen und sich dann entfernen. „Und so was hat unsere Gastfreundschaft ausgenutzt – sollen die Aasgeier sie fressen!“ sagte einer, was wie aus weiter Ferne zu ihr drang. Das letzte, was sie wahrnahm, war ein einzelner weiterer Tritt in ihre Seite, der weniger hart ausfiel, und eine Kinderstimme, die wütend rief: „Verdammter Nord-Urutu! Das geschieht dir recht, mich zu schubsen!“

Trohqaa nahm das Kind an die Hand. „Lass die Toten ruhen!“ schalt sie ihn, der oftmals viel zu sehr seinem Temperament nachgab. Aber die Zeit im Tempel würde ihn schon die nötige Ruhe lehren, dessen war sie sich sicher. „Sie hat mich geschubst, Ama!“ erwiderte der Junge trotzig, als wäre das eine passende Begründung für sein Handeln. „Kha,“ meinte Trohqaa, „aber jetzt ist sie tot. Tote lässt man ruhen! Und jetzt komm, wir gehen schlafen, morgen wird ein anstrengender Tag!“