12.03.2008, 19:08
Roter Pfeffer
Es war kalt diese Nacht in Dion. Der Wind peitschte aus Richtung Westen weiße Flocken durch die raue Winterluft. Der Junge saß zusammengesunken unter dem großen Baum. Er mochte kaum 7 Sommer alt sein. Die kleinen, nackten Füße hatte er auf eine der großen knorrigen Wurzeln des Baumes gelegt, die dünne Robe fest um den schmächtigen Körper geschlungen. Dass er schrecklich fror, war offensichtlich. „Mama“… flüsterte er, doch schien er zu wissen, dass es niemand hörte, im stetigen Raunen des Westwindes. Keiner antwortete. Auch nicht der raue Westwind.
„Komm herein!“ es war nicht das erste mal, dass die Frau rief, doch ihre feine, hohe Stimme mochte den Wind nicht zu übertönen, geschweige denn, ich zu durchdringen. Der Junge blickte auf. Sie stand auf den Treppen zur Taverne. Der Junge zögerte. „In den Tavernen tummeln sich finstere Gestalten, die der Alkohol gefährlich und unberechenbar macht“, hörte er im Geiste die Stimme seiner Mutter, als stände sie neben ihm, „Meide diesen Ort!“
„Nun komm schon, du holst dir den Tod da draußen!“ Fröstelnd zog er die Schultern hoch. Warmes Licht drang aus der Taverne nach draußen und ein Duft nach warmem Met und Tee. Ein Bisschen roch es sogar wie der uralten Kamin in seinem Elternhause. Es dauerte nicht nur einige Augenblicke, ehe er sich überwand und mit großen Schritten über den Platz huschte. Sogleich als er durch die schwere Holztür war, umfing ihn wohlige Wärme. Die Frau legte dem Kind eine Hand auf die noch immer schlotternden Schultern und schob ihn hinein. Das Licht in der Taverne war schummrig, nur wenige Fackeln brannten. Schüchtern sah sich der Junge um. Sie waren die einzigen Gäste. „Eine heiße Schokolade für den jungen Herrn?“ fragte der Wirt freundlich. Der Junge wollte gerade verneinen, sagen er habe keine Goldstücke bei sich, da sagte der Wirt, wie auf seine eigene Frage antwortend: „Aber natürlich, bei dem Wetter geht das natürlich auf’s Haus!“
Vor dem Kamin setzte der Junge sich. Die Frau trat auf ihn zu, ihn besorgt musternd. „Was machst du so alleine in Dion?“ fragte sie, „und dann bei diesem Wetter?“ Sie nahm kurzerhand ihren Mantel und begann, ihm die nassen Haare trocken zu rubbeln. „Mama…“ murmelte er wieder. Es war das einzige Wort, das die letzten Stunden seine Lippen verlassen hatte. „Nun trink erstmal“, forderte die fremde Frau ihn auf. „Das wird dir gut tun!“ Langsam setzte er den schweren Humpen an die zitternden Lippen. Zuerst verbrannte er sich fast, so hastig wollte der Trinken, doch dann, nach wenigen Schlucken durchströmte den Jungen eine wohlige Wärme. Als er den Humpen absetzte, sah er, dass die Frau lächelte.
Das erste Mal musterte er sie. Sehr alt mochte sie noch nicht sein, vielleicht Anfang bis Mitte 20, doch wirkte sie jünger. Recht klein war sie - für eine Erwachsene, dachte er, kaum größer als ein 16-jähriger Knabe. Auch ihre Figur ähnelte auf dem ersten Blick dem eines Jungen. Als er genauer hinsah, erkannte er jedoch die Rundungen an ihr, die er von seiner Mutter kannte, jedoch waren ihre Schultern sehr schmal, ihr Bauch fast beängstigend flach. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit sehr zarten, feinen Zügen und sehr großen, braunen Augen. Doch das auffälligste waren die leuchtend roten, fast orangenen Haare, die ihr bis in den Nacken fielen.
Fast war es ihm unangenehm, sie so lange gemustert, ja fast angestarrt zu haben. Schnell verbarg er die Nase wieder im Humpen und nahm einen weiteren, tiefen Schluck der Schokolade. Ihre Frage hatte er fast vergessen, bis sie schließlich fragte: „Hast du dich verlaufen? Du bist doch nicht aus Dion, oder?“ Er schüttelte heftig den Kopf und plötzlich traten Tränen in seine Augen. „Oh.. nicht doch“, sprach die Rothaarige tröstend, „Deine Eltern werden dich bestimmt finden, wenn erst einmal der Schneesturm vorüber ist. Jetzt wärm dich erst einmal auf.“ Der Junge schwieg einige Minuten. Ja, sein Vater hatte bestimmt schon einen Suchtrupp los geschickt. Das war auch damals so, als er sich im Wald verirrt hatte. Dennoch war ihm das Herz schwer. Er wollte nach Hause. „Was macht denn deine Mama, um dich zu trösten?“ fragte die Frau sanft. „Sie erzählt mir eine Geschichte.. oder… singt mir etwas vor…“ stammelte er. Dann blickte er sie hoffnungsvoll an. „Kannst du mir eine Geschichte erzählen?“ fragte er schüchtern. Die Rothaarige lächelte leicht. „Ja, ich glaube das kann ich…“ Sie legte den Mantel, welcher nunmehr nass war, vor dem Kamin zum Trocknen aus und setzte sich neben den Jungen, welcher die Hände fest um den dampfenden Humpen schloss…
„Ich möchte dir die Geschichte von einem kleinen Mädchen erzählen, das von zu Hause weg lief.“ Der Junge blickte sie neugierig an. „So wie ich?“ Sie hob eine Hand und strich ihm durch’s Haar. „Nun, ich hoffe von ganzem Herzen, dass es dir nie so ergehen wird wie ihr…“ Fragend wurd sein Blick, als er ihn ihr Gesicht sah, welches so plötzlich erst geworden war. „Man nannte sie Chayenn, denn ihr Haar hatte fast die selbe Farbe, wie das Gewürz. Das Mädchen lief von zu Hause weg, als es noch ganz klein war. Vier oder fünf Sommer, ich bin mir nicht sicher… Der Wald und die fremden Klänge der Vögel löckten sie, so wie der Duft nach Moos und Pilzen. Immer hatte ihre Mutter gewarnt, sie solle nie alleine in den Wald gehen. Doch wie kleine Mädchen und kleine Jungen nun einmal sind, war die Neugierde zu groß.“ Sanft blickte sie ihn an, doch dem Jungen entging nicht der leichte Tadel in ihrer Stimme. Doch er schwieg, denn er wollte unbedingt, dass sie weiter erzählte.
„Nun, sie ging in den Wald, hörte den Liedern der Vögel zu, beobachtete ein paar Spitzmäuse, die sich über die ersten Haselnüsse des Spätsommers hermachten. Und so ging sie immer weiter und weiter, bis sie sich schließlich verlaufen hatte. Sie rief nach ihrer Mutter und weinte ganz ganz bitterlich, doch es half nichts. Sie war allein.
Langsam kam die Nacht über den Wald und das alles, was dem kleinen Mädchen noch eben so schön und bunt vorgekommen war, wurde ganz dunkel und gruselig. Überall waren Schatten, die dicht über dem Boden zu huschen schienen. Schatten, die das Mädchen zu verfolgen schienen. Und sie rannte und rannte, bis sie schließlich gegen etwas großes, lebendiges prallte. „Mama?“ fragte sie, doch es war nicht ihre Mama. Die Frau, die dort hoch aufgerichtet vor der Kleinen stand, war nicht ihre Mutter. Sie sah auch gar nicht aus, wie ihre Mutter. Sie war sehr groß und schlank und trug prächtige Gewänder. Ihr Haar war so weiß, dass es fast leuchtete, fast wie die Großmütter im Dorf des Mädchens. Doch diese Frau war nicht alt. Doch sie war auch nicht jung. Eher schien es etwas absolut… Zeitloses zu sein, das ihr Gesicht so makellos und jugendlich wirken ließ. So als könne sie gar nicht älter werden. Ihre dunkle, schattengleiche Hautfarbe schien fast mit der Nacht zu verschmelzen…“ Der Junge schien fast an den Lippen der Frau zu hängen. „War dieses Wesen… eine.. Dunkelelfe?“ fragte er. Die Rothaarige nickte leicht. „Ja, eine Dunkle. Doch das Mädchen wusste nicht, was das bedeutete. Sie glaubte, dass diese fremde Frau sie wieder zu ihrer Mama bringen würde. Die Dunkle nahm das kleine Mädchen auf ihren Arm und dann ging sie durch den Wald. Immer weiter und weiter. Bald lichtete sich der Wald und die Stadttore Dions wurden vor ihnen sichtbar. „Bringst du mich jetzt nach Hause?“ fragte das Mädchen. Und die Dunkle nickte nur, und trat dann mit ihr auf dem Arm durch da Portal. Doch die Stadt, in der die schließlich ankamen, war nicht das zu Hause des kleinen Mädchens.
Und sie sollte es nicht wieder sehen. Die ersten Wochen fragte sie nach der Mutter, weinte und flehte, sie wolle nach Hause. Doch die Dunkle sprach nur: „Hier ist jetzt dein zu Hause“ Und sie gab dem Mädchen das beste Essen und all das Spielzeug, was sie sich immer gewünscht hatte. Es dauerte kaum ein Jahr, bis sich die Kleine mit ihrem neuen zu Hause langsam aber sicher abgefunden hatte. Sie war noch sehr sehr jung, musst du wissen, viel jünger als du. Und kaum länger dauerte es, und sie konnte sich nicht ein mal an das Gesicht ihrer Mama erinnern. Doch sie fühlte sich wohl, bekam jeden Wunsch erfüllt. Dass sie fremd war in dieser Stadt, das schient sie vergessen zu haben. Erst als sie 12 Jahre alt war, begann sie Fragen zu stellen. Einige dieser Fragen waren:„Warum bin ich so anders als ihr? Warum ist meine Haut so hell?“ Doch die Dunkle antwortete nicht direkt. Sie sagte nur: „Nun bist du bereit.“ Dann führte sie das Mädchen in das Kaminzimmer des Hauses. Sie hielt ein Eisen ins Feuer des Kamins und brannte damit ein Zeichen in die Nackenhaut des Kindes. Das Mädchen schrie und weinte, denn die Schmerzen waren schrecklich, sowie der Geruch nach dem eigenen, verbrannten Fleisch. Doch die Dunkle tröstete sie nicht. Sie schlug ihr ins Gesicht, damit sie aufhörte zu schreien und erklärte ihr, dass sie nun ihr Eigentum war und für die arbeiten müsste. Denn das Zeichen in ihrem Nacken würde sie für immer an sie und ihr Haus binden… In den folgenden Jahren sollten viele Peitschenhiebe ihren Rücken durchflügen. Sie erziehen und gefügig machen. Das Mädchen klagte nie. Und sie weinte nur, wenn es keiner sah. Denn wenn man eine Sklavin ist, dann ist man das für immer. Auch wenn das Herz noch schlägt, so ist die Seele jedoch gebrochen. Manchmal dachte das Mädchen darüber nach, weg zu laufen. Aber sie wusste, dass ihre Herrin sie überall finden würde. Denn das eingebrannte Symbol auf ihrem Nacken würde sie für immer zeichnen.“
Der Junge zog eine Schnute. „Das ist aber eine traurige Geschichte!“ Langsam stand die Frau auf und trat ans Fenster. Der Schneesturm schien sich langsam zu legen. Doch sie blickte nicht in den Schnee. Eigentlich wollte sie nur verbergen, das eine einsame Träne über ihre Wange rann. Sie wollte gerade antworten, als laute Schritte zu hören waren. Dann schwang die Tür der Taverne auf und ein ganzes Pulk Männer mit rotgefrohrenen Gesichtern trat ein. Sie wirkten müde und in Eile. „Verzeiht, habt Ihr vielleicht…“ begann er, doch dann schall ein lauter und erfreuter Schrei durch die Taverne. „Papa!“ Der Junge sprang blitzartig auf und eilte auf einen der Männer zu, dem die Erleichterung ins Gesicht geschrieben stand. „Jamie, mein Junge!“ er schloss den Kleinen in die Arme, schob ihn jedoch gleich wieder eine Armlänge von sich und sah ihn tadelnd an. „Deine Mutter hat sich schlimme Sorgen gemacht!“ Verlegen senkte der Junge den Blick. „Es tut mir leid.“ murmelte er zerknirscht. „Ich verspreche, ich werde nie nie nie wieder weglaufen!“ Dabei blickte er zu der Rothaarigen.
Die Frau seufzte tief, als die Männer zur Tür heraus waren. Der Wirt hatte seinen Platz hinter der Theke verlassen und war neben sie getreten, einen dampfenden Humpen Met in den Händen, welcher er ihr reichte. Sie hob abwehrend die Hände. „Nein, ich habe kein Geld bei mir…“ Doch er nickte nur, ein beinahe väterliches Lächeln auf den Lippen, „Nun nimm schon, Kind.“ Zaghaft nahm sie den Tonbecher und setzte sich wieder an den Kamin. „Ihr seit eine gute Geschichtenerzählerin.“ Lobte der Wirt. „Vielleicht.. erzählt Ihr einem alten Mann, wie es mit dem Mädchen weiter ging? Konnte sie fliehen?“ Die Frau nickte leicht. „Ja, sie hat es geschafft. Die Dunkle fand sie nicht wieder.“ „Aber, sie hatte doch dieses Zeichen.“ Sie nickt leicht. „Bei ihrer Flucht war sie an einen Dolch gekommen. Eine alte Klinge, kaum geschliffen und kaum scharf…“ „Sie hat doch nicht…?“ Die Augen des Alten wurden groß. „Doch, sie hat tatsächlich versucht, sich das Zeichen aus der Haut zu schneiden.“ Sie seufzte traurig. „Doch natürlich hat sie es nicht geschafft mit dem stumpfen Ding. Sie hat sich lediglich eine weitere Narbe zugefügt…“ Der Wirt nickte. „Verstehe… Aber war sie dann frei?“ Sie seufzte tief. „Ja, sie war frei. Doch wenn man als Sklave aufwächst, ist es mehr, das einen bindet, als ein Brandzeichen. Das eigentliche Band ist viel.. tiefer…“ „Sie ist also wieder versklavt worden? Aber.. wie konnte das passieren? Sie hat sich doch nicht freiwillig bei einer Dunklen gemeldet, oder?“ Ungläubigkeit stand dem Wirt in die Augen geschrieben. „Nein.. es war vielmehr.. ein Unfall. Die Dunkle rettete ihr vielleicht sogar das Leben…“ begann sie. Der Alte blickte sie gespannt an und so erzählte die junge Frau weiter…
„Chayenn war nach Dion zurück gekehrt. Hier lernte sie auch den Krieger Constantin kennen, der ihr etwas schenkte, was sie nie zuvor kannte: Bedingungslose Liebe. Er machte ihr Mut, obgleich er ihr Schicksal vielleicht an jenem Tage schon erahnte. Auch Chayenn kannte es, doch sie sprach es nicht aus. Zu schön und aufregend war dieses Gefühl der Freiheit. Aber es war getrübt. Jene Angst, ja beinahe Panik, die sie verspürte, wenn sie auch nur einen Dunkelelfen sah, sprach mehr, als Chayenn es tat. Der stumpfe Dolch an ihrem Gürtel sah von Tag zu Tag immer verlockender aus. So gab sie Constantin ein Versprechen darüber, dass sie sich niemals aufgeben würde.“
Die Rothaarige nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Humpen. „Wie geht es weiter? Wie ist sie dennoch wieder in die Klauen der Dunklen gekommen?“ Der Wirt blickte die gespannt an. Dass ihr jene Geschichte nicht leicht zu erzählen viel, schien er nicht zu merken. Sie seufzte abermals schwer und erzählte dann weiter.
„Eines Tags waren zwei Orks ins Dorf Dion gekommen. Eine schwere Anspannung lag über dem Marktplatz und war in den Gesichtern jener zu lesen, die mutig oder gar töricht genug waren, sich trotzdem vor die Tür zu trauen. Chayenn jedoch waren die bedrohlich aussehenden Wesen fremd. So kam es, dass sie aus dem Tränkeladen trat und über die Füße des einen Orks fiel. Zuerst reagierten sie nicht weiter. Chayenn flüchtete sich hinter eines der Gebäude, als auch noch eine Dunkle auf den Platz trat. Doch die Dunkle folgte ihr. Und wenig später auch die Orks. Als die beiden das Mädchen bedrohten und sie schlugen, griff die Dunkle ein. Sie schien die Orks zu kennen. Es dauerte nicht lange und sie waren in einen Kampf verstrickt.“
„Oho!“ die Augen des Wirts funkelten und er ballte die Faust. „Wer hat gewonnen?“ fragte er. Die Frau nahm einen tiefen Schluck vom Met. „Keine. Die Wachen beendeten das Handgemenge.“ Enttäuscht ließ der Alte die Faust wieder sinken. „Und was geschah mit dem Mädchen? Ging sie mit der Dunklen, die sie gerettet hatte?“ Ein leichtes Nicken war die Antwort. „Ja. Sie ging mit ihrer neuen Herrin.“ Unverständnis zeigte sich auf dem Gesicht ihres Zuhörers. „Aber warum?“ „Weil sie es eingesehen hatte. Jene Dunkle war die Hohe Magierin des Hauses Renor’Anon. Das Haus würde Chayenn Schutz bieten.“ Er nickte. „Aber was geschah mit diesem jungen Mann? Constantin? Sah sie ihn wieder?“ Die Frau lächelte leicht. „Aber natürlich. Drigania de Renor’Anon war eine gute Herrin. Obwohl Chayenn ihr diente, durfte sie sich frei bewegen.“
Der Met war kalt geworden. Sie trank den letzten Schluck und stand dann langsam auf. „Auf bald, Geschichtenerzählerin.“ Grüßte der Wirt, „Das nächste mal wünsche ich mir eine Geschichte über Drachen und Ritter.“ Sie nickte leicht. „Aber natürlich. Gehabt Euch wohl- und vielen Dank für den köstlichen Honigwein.“ Sie schüttelte den Mantel aus und warf ihn sich über die Schultern. Dann verließ sie die Taverne. Der Wirt blieb mit offen stehendem Mund zurück. Warum? Nun, bevor die Frau durch die Tür trat, hob sie ihr Haar über den Kragen des Mantels. Dabei fiel der Blick des Alten auf – ja, richtig – dem eingebrannten Zeichen eines Dunkelelfenhauses, rot und leuchtend, über einer gezackten Dolchnarbe…
Kritik erwünscht.
Es war kalt diese Nacht in Dion. Der Wind peitschte aus Richtung Westen weiße Flocken durch die raue Winterluft. Der Junge saß zusammengesunken unter dem großen Baum. Er mochte kaum 7 Sommer alt sein. Die kleinen, nackten Füße hatte er auf eine der großen knorrigen Wurzeln des Baumes gelegt, die dünne Robe fest um den schmächtigen Körper geschlungen. Dass er schrecklich fror, war offensichtlich. „Mama“… flüsterte er, doch schien er zu wissen, dass es niemand hörte, im stetigen Raunen des Westwindes. Keiner antwortete. Auch nicht der raue Westwind.
„Komm herein!“ es war nicht das erste mal, dass die Frau rief, doch ihre feine, hohe Stimme mochte den Wind nicht zu übertönen, geschweige denn, ich zu durchdringen. Der Junge blickte auf. Sie stand auf den Treppen zur Taverne. Der Junge zögerte. „In den Tavernen tummeln sich finstere Gestalten, die der Alkohol gefährlich und unberechenbar macht“, hörte er im Geiste die Stimme seiner Mutter, als stände sie neben ihm, „Meide diesen Ort!“
„Nun komm schon, du holst dir den Tod da draußen!“ Fröstelnd zog er die Schultern hoch. Warmes Licht drang aus der Taverne nach draußen und ein Duft nach warmem Met und Tee. Ein Bisschen roch es sogar wie der uralten Kamin in seinem Elternhause. Es dauerte nicht nur einige Augenblicke, ehe er sich überwand und mit großen Schritten über den Platz huschte. Sogleich als er durch die schwere Holztür war, umfing ihn wohlige Wärme. Die Frau legte dem Kind eine Hand auf die noch immer schlotternden Schultern und schob ihn hinein. Das Licht in der Taverne war schummrig, nur wenige Fackeln brannten. Schüchtern sah sich der Junge um. Sie waren die einzigen Gäste. „Eine heiße Schokolade für den jungen Herrn?“ fragte der Wirt freundlich. Der Junge wollte gerade verneinen, sagen er habe keine Goldstücke bei sich, da sagte der Wirt, wie auf seine eigene Frage antwortend: „Aber natürlich, bei dem Wetter geht das natürlich auf’s Haus!“
Vor dem Kamin setzte der Junge sich. Die Frau trat auf ihn zu, ihn besorgt musternd. „Was machst du so alleine in Dion?“ fragte sie, „und dann bei diesem Wetter?“ Sie nahm kurzerhand ihren Mantel und begann, ihm die nassen Haare trocken zu rubbeln. „Mama…“ murmelte er wieder. Es war das einzige Wort, das die letzten Stunden seine Lippen verlassen hatte. „Nun trink erstmal“, forderte die fremde Frau ihn auf. „Das wird dir gut tun!“ Langsam setzte er den schweren Humpen an die zitternden Lippen. Zuerst verbrannte er sich fast, so hastig wollte der Trinken, doch dann, nach wenigen Schlucken durchströmte den Jungen eine wohlige Wärme. Als er den Humpen absetzte, sah er, dass die Frau lächelte.
Das erste Mal musterte er sie. Sehr alt mochte sie noch nicht sein, vielleicht Anfang bis Mitte 20, doch wirkte sie jünger. Recht klein war sie - für eine Erwachsene, dachte er, kaum größer als ein 16-jähriger Knabe. Auch ihre Figur ähnelte auf dem ersten Blick dem eines Jungen. Als er genauer hinsah, erkannte er jedoch die Rundungen an ihr, die er von seiner Mutter kannte, jedoch waren ihre Schultern sehr schmal, ihr Bauch fast beängstigend flach. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit sehr zarten, feinen Zügen und sehr großen, braunen Augen. Doch das auffälligste waren die leuchtend roten, fast orangenen Haare, die ihr bis in den Nacken fielen.
Fast war es ihm unangenehm, sie so lange gemustert, ja fast angestarrt zu haben. Schnell verbarg er die Nase wieder im Humpen und nahm einen weiteren, tiefen Schluck der Schokolade. Ihre Frage hatte er fast vergessen, bis sie schließlich fragte: „Hast du dich verlaufen? Du bist doch nicht aus Dion, oder?“ Er schüttelte heftig den Kopf und plötzlich traten Tränen in seine Augen. „Oh.. nicht doch“, sprach die Rothaarige tröstend, „Deine Eltern werden dich bestimmt finden, wenn erst einmal der Schneesturm vorüber ist. Jetzt wärm dich erst einmal auf.“ Der Junge schwieg einige Minuten. Ja, sein Vater hatte bestimmt schon einen Suchtrupp los geschickt. Das war auch damals so, als er sich im Wald verirrt hatte. Dennoch war ihm das Herz schwer. Er wollte nach Hause. „Was macht denn deine Mama, um dich zu trösten?“ fragte die Frau sanft. „Sie erzählt mir eine Geschichte.. oder… singt mir etwas vor…“ stammelte er. Dann blickte er sie hoffnungsvoll an. „Kannst du mir eine Geschichte erzählen?“ fragte er schüchtern. Die Rothaarige lächelte leicht. „Ja, ich glaube das kann ich…“ Sie legte den Mantel, welcher nunmehr nass war, vor dem Kamin zum Trocknen aus und setzte sich neben den Jungen, welcher die Hände fest um den dampfenden Humpen schloss…
„Ich möchte dir die Geschichte von einem kleinen Mädchen erzählen, das von zu Hause weg lief.“ Der Junge blickte sie neugierig an. „So wie ich?“ Sie hob eine Hand und strich ihm durch’s Haar. „Nun, ich hoffe von ganzem Herzen, dass es dir nie so ergehen wird wie ihr…“ Fragend wurd sein Blick, als er ihn ihr Gesicht sah, welches so plötzlich erst geworden war. „Man nannte sie Chayenn, denn ihr Haar hatte fast die selbe Farbe, wie das Gewürz. Das Mädchen lief von zu Hause weg, als es noch ganz klein war. Vier oder fünf Sommer, ich bin mir nicht sicher… Der Wald und die fremden Klänge der Vögel löckten sie, so wie der Duft nach Moos und Pilzen. Immer hatte ihre Mutter gewarnt, sie solle nie alleine in den Wald gehen. Doch wie kleine Mädchen und kleine Jungen nun einmal sind, war die Neugierde zu groß.“ Sanft blickte sie ihn an, doch dem Jungen entging nicht der leichte Tadel in ihrer Stimme. Doch er schwieg, denn er wollte unbedingt, dass sie weiter erzählte.
„Nun, sie ging in den Wald, hörte den Liedern der Vögel zu, beobachtete ein paar Spitzmäuse, die sich über die ersten Haselnüsse des Spätsommers hermachten. Und so ging sie immer weiter und weiter, bis sie sich schließlich verlaufen hatte. Sie rief nach ihrer Mutter und weinte ganz ganz bitterlich, doch es half nichts. Sie war allein.
Langsam kam die Nacht über den Wald und das alles, was dem kleinen Mädchen noch eben so schön und bunt vorgekommen war, wurde ganz dunkel und gruselig. Überall waren Schatten, die dicht über dem Boden zu huschen schienen. Schatten, die das Mädchen zu verfolgen schienen. Und sie rannte und rannte, bis sie schließlich gegen etwas großes, lebendiges prallte. „Mama?“ fragte sie, doch es war nicht ihre Mama. Die Frau, die dort hoch aufgerichtet vor der Kleinen stand, war nicht ihre Mutter. Sie sah auch gar nicht aus, wie ihre Mutter. Sie war sehr groß und schlank und trug prächtige Gewänder. Ihr Haar war so weiß, dass es fast leuchtete, fast wie die Großmütter im Dorf des Mädchens. Doch diese Frau war nicht alt. Doch sie war auch nicht jung. Eher schien es etwas absolut… Zeitloses zu sein, das ihr Gesicht so makellos und jugendlich wirken ließ. So als könne sie gar nicht älter werden. Ihre dunkle, schattengleiche Hautfarbe schien fast mit der Nacht zu verschmelzen…“ Der Junge schien fast an den Lippen der Frau zu hängen. „War dieses Wesen… eine.. Dunkelelfe?“ fragte er. Die Rothaarige nickte leicht. „Ja, eine Dunkle. Doch das Mädchen wusste nicht, was das bedeutete. Sie glaubte, dass diese fremde Frau sie wieder zu ihrer Mama bringen würde. Die Dunkle nahm das kleine Mädchen auf ihren Arm und dann ging sie durch den Wald. Immer weiter und weiter. Bald lichtete sich der Wald und die Stadttore Dions wurden vor ihnen sichtbar. „Bringst du mich jetzt nach Hause?“ fragte das Mädchen. Und die Dunkle nickte nur, und trat dann mit ihr auf dem Arm durch da Portal. Doch die Stadt, in der die schließlich ankamen, war nicht das zu Hause des kleinen Mädchens.
Und sie sollte es nicht wieder sehen. Die ersten Wochen fragte sie nach der Mutter, weinte und flehte, sie wolle nach Hause. Doch die Dunkle sprach nur: „Hier ist jetzt dein zu Hause“ Und sie gab dem Mädchen das beste Essen und all das Spielzeug, was sie sich immer gewünscht hatte. Es dauerte kaum ein Jahr, bis sich die Kleine mit ihrem neuen zu Hause langsam aber sicher abgefunden hatte. Sie war noch sehr sehr jung, musst du wissen, viel jünger als du. Und kaum länger dauerte es, und sie konnte sich nicht ein mal an das Gesicht ihrer Mama erinnern. Doch sie fühlte sich wohl, bekam jeden Wunsch erfüllt. Dass sie fremd war in dieser Stadt, das schient sie vergessen zu haben. Erst als sie 12 Jahre alt war, begann sie Fragen zu stellen. Einige dieser Fragen waren:„Warum bin ich so anders als ihr? Warum ist meine Haut so hell?“ Doch die Dunkle antwortete nicht direkt. Sie sagte nur: „Nun bist du bereit.“ Dann führte sie das Mädchen in das Kaminzimmer des Hauses. Sie hielt ein Eisen ins Feuer des Kamins und brannte damit ein Zeichen in die Nackenhaut des Kindes. Das Mädchen schrie und weinte, denn die Schmerzen waren schrecklich, sowie der Geruch nach dem eigenen, verbrannten Fleisch. Doch die Dunkle tröstete sie nicht. Sie schlug ihr ins Gesicht, damit sie aufhörte zu schreien und erklärte ihr, dass sie nun ihr Eigentum war und für die arbeiten müsste. Denn das Zeichen in ihrem Nacken würde sie für immer an sie und ihr Haus binden… In den folgenden Jahren sollten viele Peitschenhiebe ihren Rücken durchflügen. Sie erziehen und gefügig machen. Das Mädchen klagte nie. Und sie weinte nur, wenn es keiner sah. Denn wenn man eine Sklavin ist, dann ist man das für immer. Auch wenn das Herz noch schlägt, so ist die Seele jedoch gebrochen. Manchmal dachte das Mädchen darüber nach, weg zu laufen. Aber sie wusste, dass ihre Herrin sie überall finden würde. Denn das eingebrannte Symbol auf ihrem Nacken würde sie für immer zeichnen.“
Der Junge zog eine Schnute. „Das ist aber eine traurige Geschichte!“ Langsam stand die Frau auf und trat ans Fenster. Der Schneesturm schien sich langsam zu legen. Doch sie blickte nicht in den Schnee. Eigentlich wollte sie nur verbergen, das eine einsame Träne über ihre Wange rann. Sie wollte gerade antworten, als laute Schritte zu hören waren. Dann schwang die Tür der Taverne auf und ein ganzes Pulk Männer mit rotgefrohrenen Gesichtern trat ein. Sie wirkten müde und in Eile. „Verzeiht, habt Ihr vielleicht…“ begann er, doch dann schall ein lauter und erfreuter Schrei durch die Taverne. „Papa!“ Der Junge sprang blitzartig auf und eilte auf einen der Männer zu, dem die Erleichterung ins Gesicht geschrieben stand. „Jamie, mein Junge!“ er schloss den Kleinen in die Arme, schob ihn jedoch gleich wieder eine Armlänge von sich und sah ihn tadelnd an. „Deine Mutter hat sich schlimme Sorgen gemacht!“ Verlegen senkte der Junge den Blick. „Es tut mir leid.“ murmelte er zerknirscht. „Ich verspreche, ich werde nie nie nie wieder weglaufen!“ Dabei blickte er zu der Rothaarigen.
Die Frau seufzte tief, als die Männer zur Tür heraus waren. Der Wirt hatte seinen Platz hinter der Theke verlassen und war neben sie getreten, einen dampfenden Humpen Met in den Händen, welcher er ihr reichte. Sie hob abwehrend die Hände. „Nein, ich habe kein Geld bei mir…“ Doch er nickte nur, ein beinahe väterliches Lächeln auf den Lippen, „Nun nimm schon, Kind.“ Zaghaft nahm sie den Tonbecher und setzte sich wieder an den Kamin. „Ihr seit eine gute Geschichtenerzählerin.“ Lobte der Wirt. „Vielleicht.. erzählt Ihr einem alten Mann, wie es mit dem Mädchen weiter ging? Konnte sie fliehen?“ Die Frau nickte leicht. „Ja, sie hat es geschafft. Die Dunkle fand sie nicht wieder.“ „Aber, sie hatte doch dieses Zeichen.“ Sie nickt leicht. „Bei ihrer Flucht war sie an einen Dolch gekommen. Eine alte Klinge, kaum geschliffen und kaum scharf…“ „Sie hat doch nicht…?“ Die Augen des Alten wurden groß. „Doch, sie hat tatsächlich versucht, sich das Zeichen aus der Haut zu schneiden.“ Sie seufzte traurig. „Doch natürlich hat sie es nicht geschafft mit dem stumpfen Ding. Sie hat sich lediglich eine weitere Narbe zugefügt…“ Der Wirt nickte. „Verstehe… Aber war sie dann frei?“ Sie seufzte tief. „Ja, sie war frei. Doch wenn man als Sklave aufwächst, ist es mehr, das einen bindet, als ein Brandzeichen. Das eigentliche Band ist viel.. tiefer…“ „Sie ist also wieder versklavt worden? Aber.. wie konnte das passieren? Sie hat sich doch nicht freiwillig bei einer Dunklen gemeldet, oder?“ Ungläubigkeit stand dem Wirt in die Augen geschrieben. „Nein.. es war vielmehr.. ein Unfall. Die Dunkle rettete ihr vielleicht sogar das Leben…“ begann sie. Der Alte blickte sie gespannt an und so erzählte die junge Frau weiter…
„Chayenn war nach Dion zurück gekehrt. Hier lernte sie auch den Krieger Constantin kennen, der ihr etwas schenkte, was sie nie zuvor kannte: Bedingungslose Liebe. Er machte ihr Mut, obgleich er ihr Schicksal vielleicht an jenem Tage schon erahnte. Auch Chayenn kannte es, doch sie sprach es nicht aus. Zu schön und aufregend war dieses Gefühl der Freiheit. Aber es war getrübt. Jene Angst, ja beinahe Panik, die sie verspürte, wenn sie auch nur einen Dunkelelfen sah, sprach mehr, als Chayenn es tat. Der stumpfe Dolch an ihrem Gürtel sah von Tag zu Tag immer verlockender aus. So gab sie Constantin ein Versprechen darüber, dass sie sich niemals aufgeben würde.“
Die Rothaarige nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Humpen. „Wie geht es weiter? Wie ist sie dennoch wieder in die Klauen der Dunklen gekommen?“ Der Wirt blickte die gespannt an. Dass ihr jene Geschichte nicht leicht zu erzählen viel, schien er nicht zu merken. Sie seufzte abermals schwer und erzählte dann weiter.
„Eines Tags waren zwei Orks ins Dorf Dion gekommen. Eine schwere Anspannung lag über dem Marktplatz und war in den Gesichtern jener zu lesen, die mutig oder gar töricht genug waren, sich trotzdem vor die Tür zu trauen. Chayenn jedoch waren die bedrohlich aussehenden Wesen fremd. So kam es, dass sie aus dem Tränkeladen trat und über die Füße des einen Orks fiel. Zuerst reagierten sie nicht weiter. Chayenn flüchtete sich hinter eines der Gebäude, als auch noch eine Dunkle auf den Platz trat. Doch die Dunkle folgte ihr. Und wenig später auch die Orks. Als die beiden das Mädchen bedrohten und sie schlugen, griff die Dunkle ein. Sie schien die Orks zu kennen. Es dauerte nicht lange und sie waren in einen Kampf verstrickt.“
„Oho!“ die Augen des Wirts funkelten und er ballte die Faust. „Wer hat gewonnen?“ fragte er. Die Frau nahm einen tiefen Schluck vom Met. „Keine. Die Wachen beendeten das Handgemenge.“ Enttäuscht ließ der Alte die Faust wieder sinken. „Und was geschah mit dem Mädchen? Ging sie mit der Dunklen, die sie gerettet hatte?“ Ein leichtes Nicken war die Antwort. „Ja. Sie ging mit ihrer neuen Herrin.“ Unverständnis zeigte sich auf dem Gesicht ihres Zuhörers. „Aber warum?“ „Weil sie es eingesehen hatte. Jene Dunkle war die Hohe Magierin des Hauses Renor’Anon. Das Haus würde Chayenn Schutz bieten.“ Er nickte. „Aber was geschah mit diesem jungen Mann? Constantin? Sah sie ihn wieder?“ Die Frau lächelte leicht. „Aber natürlich. Drigania de Renor’Anon war eine gute Herrin. Obwohl Chayenn ihr diente, durfte sie sich frei bewegen.“
Der Met war kalt geworden. Sie trank den letzten Schluck und stand dann langsam auf. „Auf bald, Geschichtenerzählerin.“ Grüßte der Wirt, „Das nächste mal wünsche ich mir eine Geschichte über Drachen und Ritter.“ Sie nickte leicht. „Aber natürlich. Gehabt Euch wohl- und vielen Dank für den köstlichen Honigwein.“ Sie schüttelte den Mantel aus und warf ihn sich über die Schultern. Dann verließ sie die Taverne. Der Wirt blieb mit offen stehendem Mund zurück. Warum? Nun, bevor die Frau durch die Tür trat, hob sie ihr Haar über den Kragen des Mantels. Dabei fiel der Blick des Alten auf – ja, richtig – dem eingebrannten Zeichen eines Dunkelelfenhauses, rot und leuchtend, über einer gezackten Dolchnarbe…
Kritik erwünscht.