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Fußspuren im Sand der Zeit
#4
Ich will, solang ich hier bin, die Augen auftun, bescheiden sehen und erwarten, was sich mir in der Seele bildet.
(Johann Wolfgang v. Goethe)

Wie der Zufall es wollte, war das kleine Örtchen Dion der erste Wegpunkt auf ihrer Reise. Zwei Händler waren mit ihrem Karren von Heine aus unterwegs hier hin und nahmen die Priesterin gern mit. Yvaine saß auf beim pferdegezogenen Wagen und blickte in die Landschaft, die immer kühler zu werden schien, je weiter sie sich von Heine entfernte. Als schließlich nach einem guten halben Tag des Weges die ersten Häuser Dions in Sicht kamen, war die Kälte bereits schneidend - drängte sich durch jede Faser der Kleidung und tat im Gesicht weh. Auch hier hatte es also bereits begonnen.

Nach einem kurzen Plausch mit den Händlern verabschiedete sie sich. Zwar hatten die Männer sie zu einer Tasse Tee ins hiesige Schankhaus eingeladen, doch galt der erste Weg in der neuen Stadt einem anderen Ort. Yvaine stapfte durch den Schnee, den Weg zur kleinen Kirche empor. Es dämmerte und sie hörte die Stimmen der Personen, bevor sie jene erblickte, gut hundert Meter vor ihr kreuzten sie ihren Weg. Ein Mann wurde abgeführt. Sie konnte nicht viel erkennen, blinzelte gegen die einbrechende Dunkelheit und die Schneeflocken, die sich gar auf ihre Wimpern gelegt hatten. Schwere Ketten hatte man um die Arme und Hände des Mannes gelegt, der den scheinbaren Wachen ergeben folgte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Zwar war sie nicht in Kenntnis über die Sitten dieses Dorfes und noch weniger darüber, wer dieser Mann war - sie war zu weit weg, um die Gesichtszüge des Fremden zu erkennen und die Fellkaputze über seinem Haupt raubte jede Sicht - doch hatte niemand es verdient, wie ein Hund... sie unterbrach ihren Gedanken und sagte auch nichts, denn Stimmenfetzen drangen an ihr Ohr. Mord? War es dieses Wort, das sie hörte? Eine Tote in der Kirche? Yvaine verharrte, wandte sich abermals zum Haus der Göttin um. Was wurde hier gespielt? Die Welt lag im Chaos, doch was geschah in diesem Dorf? Sie wandte sich den Umstehenden zu, die das Tuscheln begonnen hatten.

"Verzeiht meine Neugierde, doch was..." weiter kam sie nicht, die beiden Frauen unterhielten sich so energisch, dass sie die Priesterin nicht einmal bemerkt hatten. "Jaja. Mausetot die Kleine!" Yvaine stapfte abermals zur Kirche empor und trat in die weiche Wärme des Gebäudes ein.

Die Wärme und die fühlbare Gottesnähe taten ihr gut. Langsam sah sie sich um. Die Tote lag mit dem Hinterkopf zu ihr. Yvaine sah nur ungebändigte braune Locken. Eine Frau also tatsächlich. Langsam trat sie näher, ruhig und eine Spur feierlich, der fremden Toten zu gedenken und zur Göttin zu beten, als ihr Blick auf das Antlitz der Toten fiel und sie erstarren ließ. Es war ihr, als würde die Kälte mit einer Macht ins Innere der Kirche dringen und mit klammen Fingern durch ihren Brustkorb greifen, das Herz fassen und mit eisernem Griff zerdrücken. Es kostete sie alle Selbstbeherrschung, auf den Füßen zu bleiben. Sie kannte dieses Mädchen.

Die Selbstberherrschung wich mit einem Schlag, als eine der Tempelwachen auf sie zu trat, offensichtlich Hilfe anbietend. Yva hörte seine Worte nicht. "Raus..." sprach sie leise und schwer beherrscht. "Lasst mich allein mit ihr. Sofort!" Das letzte Worte war schon fast geschrien. Die Wache, auf einen solchen Ausbruch nicht vorbereitet, fuhr leicht zusammen. "Verzeiht, Wehrteste. Aber ich kann nicht einfach jemand Fremdes allein lassen mit..." weiter kam er nicht. In einer wütenden Bewegung schob sie den schweren Wintermantel beiseite und entblößte das silberne Kreuz um ihren Hals. "Doch vielleicht eine Priesterin Einhasads im Hause ihrer Göttin?" Der Wachmann nickte nur leicht und verließ die Kirche.

Es war wohl das Schlimmste, das einer Mutter widerfahren konnte: Das eigene Kind zu verlieren. So auch einer Ziehmutter. Lange Minuten betrachtete die Priesterin das Gesicht der Toten, den entspannten, beinahe erleichterten Ausdruck darauf. Sie schien nicht mit ihrem Tod gerechnet zu haben. Vorsichtig strich sie eine der braunen Korkenzieherlocken aus dem kindlichen Antlitz ihrer einstigen Schülerin, hauchte einen mütterlichen Kuss auf die erkaltete Stirne. "Wer hat dir dies nur angetan, meine Kleine..?"

Es war selten vorgekommen, dass Priesterin Yvaine derart die Kontrolle über sich und die einstudierten Werte verloren hatte, die ihre Persönlichkeit sonst stets prägten. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, doch waren so viele Fragen da, die sie schier erdrückten. Warum war Tristana hier, in Dion? Was hatte sie hier erlebt? Wer hatte ihr dies angetan? Und warum? Es fiel schwer, diese Fragen beiseite zu drängen - sich auf das zu konzentrieren, für das man bestimmt war. Sie riss die Augen von der Toten los, kniete vor dem Altar und der Statue Einhasads nieder. Sie sprach lautlos, nur die Lippen bewegten sich in stiller Zwiesprache zu jener, der sie diente. Dann küsste sie das Kreuz um ihren Hals und erhob sich mit geschlossenen Augen. "Danke, dass du sie bei dir aufgenommen hast, meine Göttin. Sie war ein gutes Mädchen. Nun endlich ist sie frei und muss nicht mehr davon laufen."

Eine gute Stunde später sahen die Tempelwachen die Frau wieder aus der Kirche treten. Sie hatte ihre Trauerarbeit vorerst geleistet und blickte den Männern zwar aus tränengeröteten, aber sehr gütigen Augen entgegen. Mit leiser Stimme stellte sie sich ihnen vor, blickte dann nachdenklich ins Dort herab. "Wer mag es wohl gewesen sein, der eine so junge Frau mit Gewalt aus dem Leben riss? Wer war der Mann, den sie abführten?" Die Wache runzelt die Stirn. "Ihr wisst es nicht? Er ist der Priester hier!" Yvaine schüttelte den Kopf. "Was ist das für eine Zeit, in dem ein Priester Einhasads zu einem Mord verdächtigt wird?" Es lag keine Kritik in diesen milde gesprochenen Worten, doch der Wachmann reagierte trotzdem so, als ob. "Nun, der Stein mit dem sie erschlagen wurde, stammt vom Friedhof. Und der Priester wurde oft mit ihr gesehen." Die Augen der Priesterin verdunkelten sich. Es hatte keinen Sinn, mit diesem Mann zu diskutieren. Die Zeit, die sie dazu aufbringen musste, fehlte ihr gerade. "Wohin bringen sie ihn?" Die Wache gestikulierte in die Ferne. "Vermutlich ins Schloss." Sie nickte nur knapp und wand sich ab.

Sie würde sich mit einem Tee im Gasthaus "zum fetten Fasan" aufwärmen und war bereit, dem Festgenommenen in die Augen zu sehen. Schuldig oder nicht - das stand hier noch nicht zur Debatte.

[Bild: verkleinert2.jpg]
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Fußspuren im Sand der Zeit - von flicka - 08.02.2012, 03:13
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