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Fußspuren im Sand der Zeit
#16
Vertrauen ist das Gefühl,
einem Menschen sogar dann glauben zu können,
wenn man weiß,
dass man an seiner Stelle lügen würde.
(Henry Louis Mencken)

Ganz und gar unpriesterlich knüllte sie das begonnene Pergament zusammen und schleuderte es gegen die Wand, nur um es im nächsten Moment wieder aufzuheben und zu entfalten. Nicht zum ersten Mal, was man der verschmierten Tinte ansah. Abermals las sie den Abschnitt im alten Wälzer, der ihr schon mehr als nur eine Frage beantwortet hatte. "Dunkle Magie und Seelenbindungen" - allein der Titel schien sie und ihren Glauben zu verhöhnen. Yvaine gab ein leises Seufzen von sich und rieb sich die Stirn. Es war kaum Mittag und trotzdem fühlte sie sich schier ausgelaugt. Das Gespräch mit Ian hatte ihr nicht nur gut getan, es hatte ihr nur zu deutlich gezeigt, welche Grenzen ihr Glaube ihr in dieser Aufgabe in den Weg stellte. Noch einmal fuhr die Gänsefeder die einzelnen aufgeführten Punkte nach. Wenn sie dem Buch Glaube schenken konnte, so würde es eine Möglichkeit geben, auch mit dem Bruchteil an Seele Freyas, das sie besaßen, die eingefrorenen Menschen zu erlösen. Doch kaum einer der aufgeführten Punkte verstieß nicht in irgendeiner Art gegen die Tugenden, Werte, Ideale... die der Glaube Einhasads beinhaltete. Schlimmer noch: Gerade der Schwur, den sie als Priesterin Einhasads geschworen hatte, warf Schwierigkeiten auf, die sich wie Felsbrocken vor die Erlösung der Gefangenen legten. Sie würden die Seele Freyas bannen müssen, um sie zu benutzen. Und sie würden gegen Gesetze verstoßen müssen. Eine Seele bannen... allein der Gedanke machte ihr Angst. Seelen sollten Ruhe finden. Sie dann auch noch gegen ihren Willen zu benutzen... Undenkbar. Was jedoch weitaus undenkbarer war, war es, gegen eine Einwilligung der jeweiligen Stadtoberhaupte die bestatteten Leichen der Kälteopfer zu exhumieren. Doch eine Erlaubnis würde niemand erteilen - nicht zu einem Plan, der genauso gefährlich wie absurd klang.

Yvaines Gedanken wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Hastig ließ sie das Pergament verschwinden und trat an die Tür. Es war der Bote, den sie früh morgens entsandt hatte. Mit leisen Worten des Danks nahm sie die Pergamentrolle entgegen, die er ihr reichte und überflog sie, als der Mann wieder gegangen war. Eine Liste aller, die durch Freyas Magie zu Eis erstarrt und bereits beerdigt waren. Mit Erleichterung sah Yvaine nun schwarz auf weiß, dass fast alle tatsächlich beigesetzten in Schuttgart zu finden waren. Im Herz der Kälte... der Gedanke ließ sie kurz erschaudern, ehe sie auch dieses Pergament zusammenrollte und ans Fenster trat.
Sie war nicht überrascht, Iaskell zu sehen, der dort unten am steinernen Geländer stand, den Blick über die Wiesen zum Wald schweifen ließ, offensichtlich in Gedanken. Ohne es zu wissen, machte er Yvaine ihren Entschluss ungleich schwerer. Er würde ihr helfen, ihr beistehen - auch wenn ihr Weg nicht der war, der den Werten der Göttin entsprach. Sie seufzte leise auf. Würde sie diesen Weg gehen und damit in den Ungunst Einhasads fallen, war das, was sie ihr Leben lang erstrebt, sich erarbeitet hatte, verwirkt. Doch es würde das Leben von Menschen retten können, die in der komaähnlichen Stille des Eises gefangen waren. Unschuldige Seelen. Im Tausch gegen den eigenen Glauben, gegen das eigene Seelenheil. "Ist etwas wirklich böse, wenn es Gutes erbringt?" Sie dachte über Ians Worte nach. Das, was sie tun müsste, würde bedeuten, dass ihr Weg in die Schatten führen würde - um zurück zum Licht zu gelangen. Vielleicht würde Einhasad ihr vergeben, so sie sehen würde, dass ihr Tun Gutes bezweckte. Wenn nicht... Yvaine schluckte trocken, verbannte die Zweifel. Doch wenn sie Iaskell mit in diese Schatten nehme... wer würde da sein und sie zurück ins Licht führen, wenn nicht er? Wie könnte sie ihm erklären, was sie tun müsste? Wie könnte er sie verstehen? Sie wusste ob seiner Zweifel, seit er erfahren hatte, dass die eigene Schwester lebendig begraben wurde. Sie kannte seine Ängste. Und genau darum wusste sie, dass sie ihn loslassen musste - nur einen Deut, um ihn nicht auch noch zu zerbrechen.

Schließlich gab sie sich einen Ruck, trat vom Fenster zurück. Mit zitternden Fingern zog Yvaine die weißsilberne Priesterkutte aus, die so lange ein Teil ihrer selbst gewesen war und schlüpfte in die gewöhnliche schwarzgrüne Reiserobe. Deutlich schwerer fiel das Abstreifen des Krufizixes. Robe und Kette legte sie sorgsam aufs Bett und wandte sich dem Arbeitsplatz Iaskells zu, den sie für ihre Arbeiten genutzt hatte. Knappe Worte fanden ihren Platz auf jungfräulichem Pergament, welches seinerseits einen Platz auf der Priesterrobe auf dem Bett fand.

Ist etwas wirklich böse, wenn es Gutes erbringt?
Zweifle niemals. Gebe nie auf.
Vertraue.
Yva.

Als sie das Zimmer verließ, deutete nichts daraufhin, dass sie wirklich gegangen war. Nichts außer dem Flakon mit Freyas Seele und einer einzelnen Phiole mit einer gefrorenen Locke darin begleitete ihren Weg. Das Zimmer sah aus, als würde sie jeden Augenblick zurück kommen. Yvaine zog die Kaputze des dunklen Mantels tief ins Gesicht und trat in die Kirche herunter. Es war niemand hier, wie sie erleichtert feststellte. Vor dem Altar und der steinernen Statue Einhasads brach sie in die Knie, mehr unfreiwillig, als die Beine das Gewicht nicht mehr trugen, dass ihre Schultern gen Boden drückte. "Einhasad, meine Göttin, du Hellerleuchtete. Heute knie ich vor die als dein Kind, eines der Kleinsten gar - nicht als die Priesterin, als die ich dir zu dienen schwor. Bitte nimm diese Bürde von mir! Sieh, diese unschuldigen Wesen dort draußen, gefangen im magischen Gefängnis der Eisgöttin. Sie finden nicht den Weg zu dir, in deine erleuchteten Hallen - und doch nicht den Weg zurück zu uns. Die Mittel, die ich nutzen werde, um sie zu befreien, sind nicht die, die du für gut erheißen würdest. Doch sind es die einzigen, die uns bleiben, um sie aus diesem Stillstand zu erlösen. Ich breche meinen Schwur, wissend. Um ihnen zu helfen. Bitten will ich um deine Vergebung der armen Seele Freyas, die nicht wusste was sie tat. Niemand ist von sich aus böse. Verwirrte Gedanken verleiten dazu, unverzeihliches zu tun. Vergebe ihr." Eine Träne fiel, als die Stimme der Priesterin in leises Zittern brach. "Und so es deine ewige Güte erlaubt, vergebe auch mir. Und gebe deinem treuen Diener Iaskell Kraft, mich zurück ins Licht zu führen, auf deinen Weg, so meine Aufgabe beendet ist."

Yvaine verließ die Kirche, ohne zu bemerken, dass an der Hintertür jemand stand, ihre Worte wohl gehört hatte, unfähig, sich ob ihnen bemerkbar zu machen oder nur zu rühren. Trotz der warmen Strahlen der Nachmittagssonne schlang sie die Arme fest um den Körper, zitternd und frierend, während ihre Schritte sie zum Schloss führten. Wehmütig der Blick zurück über das Dorf und die Kirche, die wie eine Wächterin auf der natürlichen Erhebung des Hügels thronte. Sie würde zurück kehren. Noch heute. Doch nicht als Priesterin.


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