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Fußspuren im Sand der Zeit
#20
Der Zug des Herzens
ist des Schicksals Stimme.
(Friedrich von Schiller)

Der neue Morgen schob sich ins Land und ließ den Regen vom Vortag in Vergessenheit geraten. Yvaine brach früh zum Hafen auf, den Stab mit dem Kainskristall im Gepäck.
Die Temperaturen ließen es zu, dass sie den dicken Mantel im Haus ließ, ungewiss, dass sie dies noch bereuen würde. Am Hafen Gludins lieh sie sich ein kleines Ruderboot und ruderte aufs offene Meer. Die See war mild und die Strömung mache es ihr leicht.

Der Leuchtturm am Ufer wurde kleiner und eine lange Weile paddelte Yvaine vor sich hin, bis sie bemerkte, dass die Strömung sie südwestlich gezogen hatte. Bald war nur noch der kleine Leuchtturm zu sehen. Dann ließ der Sog nach und das kleine Boot ließ sich weiter nach Westen lenken, aufs offene Meer.
Yvaine legte die Ruder ins Boot, nahm den Stab zur Hand. Nachdenklich betrachtete sie ihn, fühlte das verlockende Kribbeln der Fingerkuppen auf dem kühlen Ebenholz. Schließlich nahm sie den Stein, etwas über kopfgroß, und band ihn an den Stab. Schwer lag dieser nun auf ihrem Schoss, das Gewicht drückte sich unsanft in die Oberschenkel. Sie schloss die Augen, obgleich sie Angst vor dem Ergebnis hatte. Doch nur das leise Rauschen entfernter Wellen war zu hören, ab und an das Kreischen einer Möwe. Die Stimmen schwiegen. Erleichtert atmete sie aus, öffnete die Augen wieder.

Die Mittagssonne strahlte und die Wasseroberfläche reflektierte ihr Licht, wandelte es in Wärme. Ließ sie fast vergessen, warum sie hier war. Vorsichtig löste Yvaine das Band, das den Samtbeutel über dem Kainskristall hielt, die Spitze des Stabs verhüllte. Wie satt das Rot im Licht der Sonne leuchtete, strahlte! Der Kristall war schwach geworden, nachdem alle Skulpturen erlöst waren, doch das Leuchten war nie ganz erstorben. Nun schien es fast noch heller als an dem Tage, als sie den Stab bekommen hatte. Etwas derartig schönes zerstören? Das kann man nicht. Das darf man nicht. Sie nahm kaum wahr, dass das Rauschen des Meeres zum Flüstern ward. Schließe die Augen und wärme dich. Langsam fielen die Lider, um mit einem erschrockenen Ruck wieder aufgerissen zu werden. Die Hand, die unbewusst über den Kristall streichelte, schoss fast panisch an die Brust, um das Kruzifix zu umfassen. Es war nicht da. "Behalte es bitte bei dir. Wenn nicht um den Hals, so wenigstens in der Tasche deines Mantels." Sie hatte Iaskells Stimme noch genau im Ohr. Der Mantel... der noch immer über dem Stuhl im Haus hing. Panisch hob sie den Blick, tastete mit den Augen den Küstenstreifen ab, der erschreckend weit fort lag. Sie konnte den Leuchtturm nicht mehr sehen. Weder den kleinen, noch den Großen in dem das Leuchtfeuer brannte, das sie heim führen sollte. Irgendwo in der Ferne ließ sich eine Windmühle erahnen. Sie war viel zu weit gen Süden getrieben. Und viel zu weit aufs Meer. Sie musste diesen Stab loswerden!

Entschlossen umfassten die Hände den Stab, kämpften gegen den inneren Drang, es nicht zutun. Die Sonne brannte nun fast auf der Haut, verführerisch kühl der rote Stein des Stabs, das Ebenholz. Schließe die Augen, entspanne. Eine starke Seele... Auch sie hat ihren Ursprung in mir. Wende dich zu mir... Diene mir... Das Gewicht des Steines schien zu dem einer Feder werden. Minuten verstrichen. Stunden. Die Sonne wanderte weiter. Ebenso das kleine Ruderboot. Dem Horizont entgegen. Es war alles so fern - die Göttin, der Mann, den sie liebte. Die Pläne, die noch am Vorabend zur Sprache kamen. Und auch die Aufgabe, der sie sich gestellt hatte. Deren Scheitern so nah war.

Es dämmerte. Ein frischer Wind kam auf, drückte das Boot nach Norden. Yvaine erwachte aus ihrer Trance, als das kleine Boot zu schaukeln begann. Was tat sie nur? Was geschah mit ihr? Es war ein Fehler, allein raus zu segeln. Hastig nahm die die Ruder zur Hand, tauchte sie ins Wasser. Viele kraftvolle Züge später begriff sie, dass sie sich kaum von der Stelle rührte. Aus den kraftvollen Zügen wurde panisches Paddeln. Ein Ruder entglitt den Fingern, dann das Zweite. Verschlungen von der gierigen See. Sie zwang sich zu Ruhe, atmete mehrere Male langsam ein und aus, um nicht in Panik auszubrechen. Unschuldig leuchteten die letzten Sonnenstrahlen am Horizont, tauchten die Linie in ein tiefes, leuchtendes Rot. Yvaine blickte zum Ufer und erschrak. Kaum mehr als eine flache ferne Linie über pechschwarzer See, schwindend lichtem Himmel. Jetzt erst begriff sie, wie weit draußen sie wirklich war. Wie konnte sie nur so starrsinnig sein! Allein rausrudern, obgleich sie weder Strömung noch Wind kannte. Sie war Priesterin, keine Abenteurerin! Sie war keine Heldin! Zitternd schloss sie die Augen. Nein. Keine Priesterin mehr. Aussichtslos.

Abermals zwang sie sich zur Ruhe. Wenigstens eines würde sie zu Ende bringen. Entschlossen packte sie den Stein mit beiden Händen, vergewisserte sich, dass der Knoten halten würde. Mit einem leisen Schrei wuchtete sie Stab und Stein über den Bootsrand, so dass der Ruck sie beinahe über Bord gerissen hätte. Der Stein entglitt den Händen, welche sich im selben Moment instinktiv an den Rand des Bootes aufstützten. Sie umklammerte den Rand schwer atmend, der Blick folgte dem Leuchten, dass in der stockdusteren Nacht des Meeres verschwand. Das einzige Leuchten. Und je weiter es sich entfernte, desto größer wurde der Wunsch, hinterher zu springen, das einzige Licht zu fassen, das blieb. Bis es erlosch und der Moment verstrich.

Das Seelenfragment Freyas war fort. Niemand würde es finden, sich seiner bemächtigen können. Yvaines Stirn sank auf den Rand des Bootes. Sie lauschte in sich hinein. Die Stimmen waren fort. Und sie würden fort bleiben. Auch die Möwen waren verstummt, so weit draußen. Nur der Wind heulte. Immer lauter. Gischt schlug ihr ins Gesicht und das Salz des Meeres wusch das Salz der stillen Tränen fort. Yvaine kauerte sich auf dem Boden des Bootes zusammen, schlag die Arme um den Körper. Die Dunkelheit und die plötzliche Einsamkeit schlugen über ihr zusammen. Das Herz krampfte sich ihr zusammen als sie begriff, dass das Flackern des Leuchtfeuers im Turm unerhört bleiben würde. Iaskell würde vergebens warten. "Verzeih mir..." flüsterte sie in den Wind, "Bitte verzeih mir..."
Das kleine Boot bebte und ächzte unter den Kräften der Wellen. Sie wollte es nicht mehr hören, weder die Geräusche des Holzes, noch das sonst so geliebte Meeresrauschen, noch die raue Stimme des Windes. Sie wollte schreien, all diese Geräusche überdecken. Ein leises Schluchzen entrann der Kehle, als das Boot kurz in der Luft schwebte, von Welle zu Wellte geschubst und ins Tal hinunterfiel, unsanft auf dem Wasser auf kam. Yvaine sah kalte Schwärze der See auf der einen Bootsseite, wenige Sterne zwischen den dichten Wolken auf der anderen, als die Nusschale mit einer neuen Welle empor gehoben wurde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Kain seine Seele bekam.
"Dass all deine Wünsche in Erfüllung gehen werden..." "Vergebung... meine Göttin... Vergebung... Liebster." Yvaine schloss die Augen und betete. Sandte Gebete der Vergebung zu Einhasad. Es war nicht die Angst zu Sterben, die sie trieb. Es war die Furcht davor, dass ihre Seele ins Reich Kain eingehen und nicht ins Himmelsreich Einhasads einkehren würde. Bis die Erschöpfung sie übermannte, das Bewusstsein schwand.

[Bild: see.jpg]
[Bild: YvaBanner2.jpg]
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